Ein Gewaltstopp wäre der erste Schritt Ein Gewaltstopp wäre der erste Schritt  (ANSA)

D/Ukraine: „Unrecht schafft keinen Frieden“

Der Kölner Erzbischof Rainer Maria Kardinal Woelki besucht derzeit die Ukraine. Im Interview mit dem Domradio Köln spricht er über die emotionalen Begegnungen im Land, die Hilfe des Erzbistums Köln vor Ort und über die absolute Notwendigkeit von Frieden.

DOMRADIO.DE: Wie sind die Eindrücke aus den ersten Tagen Ihres Ukrainebesuchs?

Rainer Maria Kardinal Woelki (Erzbischof von Köln): Ich begegne vielen Menschen, die traumatisiert unter den Folgen dieses völkerrechtswidrigen Angriffskrieges seitens Russlands auf die Ukraine leiden. Viele Menschen können immer noch nicht fassen, dass Russland ihnen die eigene Souveränität und die eigene Staatlichkeit abspricht und die Ukraine immer noch für ihr ureigenes Territorium erachtet. Die meisten Ukrainer sagen, dass sie diesen Krieg nicht wollen und einfach in Frieden leben wollen.
Es gibt kaum eine Familie, die nicht von diesem Krieg betroffen ist und die nicht irgendeinen Gefallenen in den eigenen Reihen hat, sodass das ganze Land wirklich traumatisiert ist.

Ukrainische Kriegsflüchtlinge, darunter viele Kinder
Ukrainische Kriegsflüchtlinge, darunter viele Kinder
Trauer um Kriegstote
Trauer um Kriegstote

Erschütternde Eindrücke

DOMRADIO.DE: Sie waren diesen Donnerstag in Irpin, Butscha und Hostomel, um mit Überlebenden des russischen Angriffs zu sprechen. Butscha ist so eine Art Synonym für die russische Brutalität dieses Angriffs. Wie sind Ihre persönlichen Eindrücke aus den Gesprächen, die Sie geführt haben?

Woelki: Es war zutiefst erschütternd, Menschen zu sehen, die vor den Gräbern ihrer gefallenen Söhne oder Ehemänner hockten, um sie zu pflegen. Wir können uns das kaum vorstellen, mit welcher Intensität diese Friedhöfe von den Menschen begleitet und gestaltet werden. Es ist für sie eine Aufarbeitung dieses Traumas, des Verlustes. Die Gräber sind übersät mit Lichtern und Blumen. Gestern Abend waren wir noch auf einem großen Friedhof neben Butscha, heute in Lemberg, wo auf einem völlig umgebauten Feld innerhalb kürzester Zeit ein Friedhof entstanden ist, mit weit über 1000 Gräbern.

Eine junge Frau kniete da und hockte vor dem Grab ihres Mannes. Sie war zunächst kaum ansprechbar. Schließlich konnten wir mit dieser Frau beten. Und dann erzählte sie, dass ihr Mann Arzt gewesen ist und an der Front war und dort einem anderen Verletzten hat helfen wollen. Und in dem Zusammenhang sind dann beide gefallen. Es war tief emotional berührend für mich, zu sehen, wie diese Frau dann vor dem Grab ihres Mannes kniete und mit ihm sprach. All das Leid, das sie zeichnete, sprach aus ihr heraus.

In Butscha war natürlich fürchterlich zu sehen, dass dort seitens der russischen Armee 637 Menschen einfach hingerichtet worden sind. Sie sind einfach erschossen worden, nicht durch Kriegshandlungen getötet worden. Die Ukrainer erzählen, dass die Russen wohl nicht gewusst haben, was sie überhaupt dort an diesem Ort tun sollten und aus lauter Aggression und Verzweiflung diese schrecklichen Verbrechen begangen haben. Es war unglaublich emotional, an diesem Ort zu sein. Und für mich ist noch mal deutlich geworden, wie entscheidend doch ist, dass es so etwas wie die Genfer Konvention gibt, deren 75. Jubiläum wir in diesen Tagen begangen haben. Und das ist sicherlich eine der großen Herausforderungen, die dieser Krieg stellt, dass das Mindestmaß an humanitären Standards eingehalten werden muss. Und dass das, was zum Beispiel in Butscha und Irpin und an anderen Orten passiert ist, einfach nicht sein darf.

Nach einem Raketenangriff in Kyiv
Nach einem Raketenangriff in Kyiv

Keine Gewöhnung an den Krieg

DOMRADIO.DE: Das Erzbistum Köln engagiert sich auch stark. Es hat viele vom Krieg Betroffene bereits aufgenommen, fördert aber auch über 500 Projekte mit knapp 23 Millionen Euro in der Ukraine selbst. Zeigt diese Unterstützung vor Ort Wirkung oder ist das nur ein Tropfen auf den heißen Stein?

Woelki: Das zeigt wirklich große Wirkung. 40 Prozent der Bevölkerung, die im russisch besetzten Gebiet lebt, verlässt dieses Gebiet, weil sie nicht unter russischer Besatzung leben will. Weil die Menschen diese Einschränkungen an Freiheitsrechten und Menschenrechten nicht hinnehmen wollen. Daher gibt es sehr viele Binnenflüchtlinge auch hier in der Ukraine. Und die ukrainisch-katholische Kirche und die lateinische Kirche bemühen sich sehr um diese Binnenflüchtlinge. Wir haben Rehabilitationszentren, wo den Menschen eine entsprechende psychologische und medizinische Begleitung gegeben ist, wo Kinder und Jugendliche in ihrer Persönlichkeitsentwicklung weiter gefördert werden, wo die schulische Ausbildung weiter vorangebracht wird. Es sind sehr viele Lebensmittelpakete geschnürt worden, insbesondere zur Winterzeit, als es dort große Engpässe gegeben hat. Mit ungefähr 250.000 Lebensmittelpaketen ist fast 600.000 Menschen geholfen worden, sodass sie überleben konnten. Das ist wirklich nicht nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sondern eine effektive Hilfe, die Menschen leben lässt und die Menschen Hoffnung gibt.
Unter keinen Umständen darf es so sein, dass wir bei uns diesen Krieg gering achten, dass wir ihn vergessen, dass wir uns gewissermaßen an ihn gewöhnen. Das ist auch, was die Menschen hier sagen. Sie brauchen unser Gedenken, sie brauchen unseren Rückhalt, sie wollen von uns verstanden und begleitet werden. Das ist das Entscheidende.

Einsatz auf diplomatischer Ebene

„Gerechtigkeit schafft Frieden. Rechtsstaatlichkeit schafft Frieden.“

DOMRADIO.DE: In Deutschland nimmt allmählich die Bereitschaft, die Ukraine durch Waffenlieferungen zu unterstützen, ab. Eine Mehrheit in unserer Bevölkerung ist auch gegen die Stationierung von Raketen und anderen Waffen in unserem Land. Gleichzeitig zeigen Militäroffensiven der Ukraine auch auf russischem Boden in den vergangenen Tagen erste Erfolge. Was ist Ihre Botschaft aus christlicher Sicht an Politik und Gesellschaft in Deutschland?

Woelki: Ich bin kein Politiker und von daher möchte ich mich eigentlich zu Waffenlieferungen und Stationierung von Waffen nicht weiter groß äußern, weil ich einfach kein Fachmann bin. Persönlich bin ich der Überzeugung, dass sich mit Waffen keine Konflikte lösen lassen. Dass jeden Tag hier 300 bis 400 Menschen durch diesen Krieg ihr Leben verlieren, kann nicht toleriert werden. Das muss ein Ende haben, ganz gleich wie. Gerechtigkeit schafft Frieden. Rechtsstaatlichkeit schafft Frieden. Es kann einfach nicht sein, dass man ein anderes Land überfällt und dessen Souveränität nicht achtet. Das ist Unrecht, und Unrecht schafft keinen Frieden.

„Wir müssen alles tun, damit so bald als möglich ein Frieden in Gerechtigkeit möglich wird. Auf allen Ebenen, insbesondere auf allen diplomatischen Ebenen.“

Deshalb ist es entscheidend, zur Gerechtigkeit zurückzufinden und in Gerechtigkeit gemeinsam nach einem Frieden zu suchen. Ich weiß, dass das gegenwärtig sehr, sehr schwer ist, und ich habe den Eindruck gewonnen, dass die Fronten diesbezüglich auf beiden Seiten eher verhärtet sind. Wir dürfen davon ausgehen, wenn die Ukraine als gesamtes Land in die Hände Russlands fällt, werden mit Blick auf die ganze Ukraine nur bis zu 40 Prozent der Bevölkerung unter russischer Herrschaft leben wollen. Das heißt, die anderen 60 Prozent werden in die Staaten der Europäischen Union hineinkommen wollen. Wir können vor diesem Krieg nicht die Augen verschließen. Wir müssen mit dazu beitragen, dass diese Menschen nicht vergessen werden. Wir müssen alles tun, damit so bald als möglich ein Frieden in Gerechtigkeit möglich wird. Auf allen Ebenen, insbesondere auf allen diplomatischen Ebenen. Damit das Sterben endlich ein Ende hat, damit das Leid für die vielen Familien gestoppt wird und damit junge Menschen in der Ukraine eine Zukunft haben. Denn die wollen ja einfach wie wir in Freiheit leben. Sie wollen Bildung haben, sie wollen eine Zukunft haben, sie wollen am Wohlstand partizipieren. Und sie wollen vor allen Dingen in ihrem Land bleiben und nicht zu uns kommen müssen.

Das Interview führte Jan Hendrik Stens.


(domradio - pr)

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16. August 2024, 11:06