Buchtipp: Martin Werlen – Baustellen der Hoffnung
Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Pater Martin Werlen, worin liegt für Sie die Hoffnung einer Baustelle – abseits davon, dass sie hoffentlich rechtzeitig fertig wird?
P. Martin Werlen: Wir vergessen, dass wir all das Große in unserem Leben Baustellen verdanken. Denken wir an die Bauten dort, wo wir heute Abend schlafen. Das verdanken wir einer Baustelle. Jeden Kilometer, den wir mit der Bahn oder mit dem Auto zurücklegen, verdanken wir Baustellen. Sonst wären die Straßen oder die Gleise nicht da. All die Kirchengebäude, die wir bestaunen, verdanken wir Baustellen. Baustellen sind Zeichen der Hoffnung, weil sie uns voranbringen. Und Baustellen haben wir nicht, damit wir Baustellen haben, sondern damit etwas besser wird, etwas Großartiges entsteht. Und darum sind Baustellen so wichtig in unserem Leben. Wo es keine Baustellen mehr gibt, ist das Leben am Ende.
Es war eine Großbaustelle bei Ihnen zu Hause in der Propstei St. Gerold in Vorarlberg, die Sie zum Nachdenken über „Baustellen der Hoffnung" gebracht haben. Baustellen – auch unsere Heilig-Jahr-Baustellen in Rom vor unseren Fenstern – gehen uns grundsätzlich auf die Nerven, weil wir sie umfahren und umgehen müssen und dabei Zeit verlieren. Aber was lässt sich dabei lernen?
P. Martin Werlen: Jede richtige Baustelle schafft neue Lebensräume. Orte, wo wir aufatmen können. Was uns nervt, ist meistens im Vordergrund, und nachher, wenn es fertiggestellt ist, denken wir leider nicht mehr daran, dass wir das Baustellen verdanken. Die Baustelle hier in der Propstei hat mir das immer mehr nahegebracht, dass Baustellen wichtig sind, und dass es etwas vom Wichtigsten in unserem Leben ist, das Leben selbst, unser persönliches Leben, als Baustelle wahrzunehmen.
Sie sagen, je älter wir werden, desto mehr Baustellen gibt es in unserem Leben – und das ist ein Zeichen der Hoffnung. Wie das?
P. Martin Werlen: Eine Frau, die mit vielen Baustellen hier zu uns in die Propstei gekommen ist, hat mir da einen Schlüssel gegeben. Die Dinge waren über ihrem Kopf zusammengebrochen: ihre Beziehung, der Umgang mit den Kindern, am Arbeitsplatz – nichts mehr ist gut gegangen. Ich habe sie gefragt, ob sie ein Hobby hat - nein, ich habe keine Zeit dafür. Hattest du früher ein Hobby? Ja, ich habe gerne gemalt. Da habe ich sie gebeten, ihre Baustellen zu malen. Am nächsten Tag hatte sie fünf großartige Malereien. Sie hat gesagt: Das ist das erste Mal, dass ich einen liebevollen Blick auf meine Baustellen werfe. Und wahrscheinlich ist genau das das Entscheidende. Sobald wir einen liebevollen Blick auf unsere Baustellen werfen, eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Solange wir sie nur als negativ wahrnehmen, versuchen wir sie zu verstecken. Wir stellen uns ihnen nicht, wir entschuldigen uns für die Baustellen. In dem Moment, wo ich einen liebevollen Blick darauf werfe, kann etwas geschehen.
Auch Kirche ist immer Baustelle
Sie kommen auch zu dem überraschenden Befund, dass die Baustelle das häufigste Bild im Neuen Testament für Kirche ist.
P. Martin Werlen: Das ist ein Bild, das wir kaum wahrnehmen, aber wenn wir uns dem bewusst werden, begegnen wir überall diesem Bild der Baustelle. Und wenn wir sagen: „Ecclesia semper reformanda“, dann sagen wir genau das. Sie ist eine Baustelle. Und wenn wir einen liebevollen Blick auf diese Baustelle werfe, dann können sich neue Perspektiven eröffnen. Das ist eine synodale Kirche: miteinander einen liebevollen Blick auf die Baustelle werfen, und dann miteinander, mit den je eigenen Talenten, Gaben und Aufgaben an die Arbeit gehen.
Ihr Buch ist eine Meditation über das, was im Werden ist. So gesehen: Können innere Baustellen jemals abgeschlossen sein?
P. Martin Werlen: Eine Baustelle ist dann abgeschlossen, wenn die Arbeit vollendet ist. Zu unserer Baustelle Leben gehört auch der Tod. Das Ende. Aber gerade weil wir Baustellen als Zeichen der Hoffnung haben, ist das nicht das Ende, sondern die Vollendung. Und alles, was im Werden ist, ist Baustelle, und wir können hoffen, dass alles zur Vollendung führt.
Martin Werlen: Baustellen der Hoffnung. Eine Ermutigung, das Leben anzupacken. Verlag Herder, 2024.
(vatican news – gs)
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