Wortlaut: Predigt des Papstes bei der Messe in Aglona/Lettland
APOSTOLISCHE REISE NACH LETTLAND
Homilie des Heiligen Vaters
Heilige Messe
(Heiligtum der Gottesmutter von Aglona,
24. September 2018)
Man könnte sagen, dass sich das, was Lukas am Anfang der Apostelgeschichte erzählt, hier und heute wiederholt: wir sind innig vereint, im Gebet und in der Gemeinschaft mit Maria, unserer Mutter (vgl. 1,14). Heute machen wir uns das Motto dieses Besuches zu eigen: „Zeige dich als Mutter!“, zeige uns, an welchen Orten du auch heute noch das Magnificat singst, an welchen Orten dein gekreuzigter Sohn zu finden ist, damit wir zu seinen Füßen auch deiner unerschütterlichen Gegenwart teilhaft werden.
Das Johannesevangelium berichtet nur von zwei Momenten, in denen sich das Leben Jesu mit dem seiner Mutter kreuzt: die Hochzeit zu Kana (vgl. Joh 2,1-12) und die Stelle, die wir gerade gelesen haben, als Maria unter dem Kreuz steht (vgl. Joh 19,25-27). Es sieht so aus, als wollte der Evangelist uns die Mutter Jesu bewusst in diesen scheinbar gegensätzlichen Situationen zeigen: in der Freude über eine Hochzeit und im Leid beim Tod ihres Sohnes. Wenn wir jetzt in das Geheimnis des Wortes eintreten, möge sie uns zeigen, welche Gute Nachricht der Herr uns heute mitteilen möchte.
Zunächst weist der Evangelist darauf hin, dass Maria unbeirrt bei ihrem Sohn steht. Sie steht nicht einfach herum, sie weicht nicht, sie ist nicht verzagt. Sie steht dort standhaft, wie „angenagelt“ am Fuß des Kreuzes und drückt mit ihrer Körperhaltung aus, dass nichts und niemand sie von diesem Ort wegbringen kann. Maria zeigt sich vor allem so: an der Seite derer, die leiden, die von aller Welt gemieden werden, auch an der Seite derer, die angeklagt und von allen verurteilt werden, die deportiert werden. Es ist nicht einfach so, dass sie unterdrückt oder ausgebeutet werden, sondern sie befinden sich direkt „außerhalb des Systems“, am Rande der Gesellschaft (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 53). Bei ihnen ist auch die Mutter, zusammen angenagelt an dieses Kreuz des Unverständnisses und des Leidens.
Maria zeigt uns auch einen Weg, dieser Wirklichkeit zu begegnen; dieser Weg ist weder ein Spaziergang oder ein Kurzbesuch und auch kein „Solidaritätstourismus“. Es geht darum, dass die, welche eine leidvolle Wirklichkeit erleben, spüren können, dass wir fest und zuverlässig an ihrer Seite und auf ihrer Seite stehen. Alle, die von der Gesellschaft ausgeschlossen sind, können diese Mutter erfahren, die ihnen liebevoll nahe ist, denn in den Leidenden sind die Wunden ihres Sohnes Jesus auch heute noch nicht verheilt. Sie hat das am Fuße des Kreuzes gelernt. Auch wir sind gerufen, mit dem Leid unserer Mitmenschen „in Berührung“ zu kommen. Lasst uns ihnen entgegengehen, um sie zu trösten und zu begleiten; haben wir keine Angst davor, die Kraft der Zartheit zu erfahren und uns auf die anderen einzulassen, auch wenn unser Leben dadurch komplizierter wird (vgl. ebd., 270). Und lasst uns wie Maria dabei fest und aufrecht stehen: mit einem Gott zugewandten Herzen und dem Mut, den Gefallenen aufzuhelfen, die Niedrigen aufzurichten und dabei zu helfen, jegliche Unterdrückung zu beenden, die sie wie Gekreuzigte leben lässt.
Maria wird von Jesus aufgefordert, den Lieblingsjünger als ihren Sohn anzunehmen. Der Text sagt uns, dass sie zusammen dort standen, aber Jesus erkennt, dass das nicht genug war, dass sie sich nicht gegenseitig angenommen haben. Denn man kann neben vielen Menschen stehen, man kann dabei sogar dasselbe Haus, dasselbe Wohnviertel oder den gleichen Arbeitsplatz teilen; man kann denselben Glauben teilen, die gleichen Geheimnisse betrachten und sich an ihnen erfreuen, ohne den anderen dabei wirklich anzunehmen, ohne ihm liebevolle Annahme zuteilwerden zu lassen. Wie viele Ehepaare könnten ihre Geschichten „einsamer Zweisamkeit“ erzählen; wie viele Jugendliche fühlen eine schmerzliche Distanz zu den Erwachsenen, wie viele alte Menschen werden steril versorgt, fühlen sich dabei aber kaum liebevoll umsorgt und angenommen.
Es mag sein, dass wir manchmal verletzt wurden, wenn wir uns anderen gegenüber geöffnet haben. Es stimmt auch, dass auf politischer Ebene die Geschichte der Auseinandersetzung zwischen den Völkern noch schmerzlich gegenwärtig ist. Maria zeigt sich als eine Frau, die offen ist für Vergebung, die Groll und Misstrauen beiseitelässt; sie fragt auch nicht klagend, was „hätte sein können“, wenn die Freunde ihres Sohnes, wenn die Priester ihres Volkes oder die Herrscher sich anders verhalten hätten, sie lässt sich nicht von Frustration oder Ohnmacht überwältigen. Maria glaubt an Jesus und nimmt den Jünger an, denn die Beziehungen, die uns heilen und befreien, sind jene, die uns zur Begegnung und Brüderlichkeit mit den anderen öffnen, weil sie im anderen Gott selbst entdecken (vgl. ebd., 92). Als Bischof Sloskāns, der hier ruht, verhaftet und in die Verbannung geschickt worden war, schrieb er einmal an seine Eltern: »Ich bitte euch aus der Tiefe meines Herzens: Lasst in euren Herzen weder Rachegefühle noch Aggression aufkommen. Wenn wir dies zuließen, wären wir keine wahren Christen, sondern Fanatiker.« In Zeiten, in denen scheinbar Gesinnungen wiederaufleben, die Misstrauen gegenüber den anderen säen und mithilfe von Statistiken belegen wollen, dass es uns besser ginge, dass es größeren Wohlstand und mehr Sicherheit gäbe, wenn wir allein wären, laden Maria und die Jünger dieses Landes uns ein, den anderen aufzunehmen, wieder auf den Bruder und die Schwester, auf universale Geschwisterlichkeit zu setzen.
Aber Maria zeigt sich auch als eine Frau, die sich aufnehmen lässt, die demütig akzeptiert, fortan zum Jünger zu gehören. Als bei jener Hochzeit der Wein ausgegangen war und die Feier Gefahr lief, voller Riten, aber arm an Liebe und Freude zu enden, war sie es, die Anweisung gab, das zu tun, was Jesus ihnen sagte (vgl. Joh 2,5). Jetzt, als gehorsame Jüngerin, lässt sie sich aufnehmen, sie zieht um und passt sich dem Lebensrhythmus des Jüngeren an. Es geht immer auf Kosten der Harmonie, wenn wir verschieden sind, wenn uns Unterschiede im Alter, in der Lebenserfahrung und andere Umstände auf dem ersten Blick gegensätzlich fühlen, denken und handeln lassen. Wenn wir im Glauben das Gebot vernehmen, aufzunehmen und aufgenommen zu werden, ist es möglich, Einheit in Vielfalt zu schaffen, weil uns die Unterschiede nicht bremsen oder spalten, sondern weil wir fähig sind, über den Tellerrand hinauszuschauen und die anderen in ihrer innersten Würde als Kinder desselben Vaters zu sehen (vgl. Apostolisches Schreiben Evangelii gaudium, 228).
Wie bei jeder Eucharistiefeier begehen wir das Gedächtnis jenes Tages. Am Fuße des Kreuzes erinnert uns Maria an die Freude darüber, dass wir als ihre Kinder anerkannt wurden. Ihr Sohn Jesus lädt uns ein, sie nach Hause mitzunehmen und ihr einen Platz in der Mitte unseres Lebens zu geben. Sie will uns ihren Mut weitergeben, damit wir fest und aufrecht stehen; ihre Demut, die es ihr erlaubt, sich auf die grundlegenden Gegebenheiten jedes Augenblicks der Geschichte einzulassen; und sie verlangt danach, dass wir uns in ihrem Heiligtum hier alle verpflichten, einander ohne Diskriminierung anzunehmen. Denn jeder in Lettland soll wissen, dass wir bereit sind, den Armen einen besonderen Platz einzuräumen, den Gefallenen aufzuhelfen und die anderen so anzunehmen, wie sie zu uns kommen und vor uns stehen.
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.