Wortlaut: Papst Franziskus bei seiner Generalaudienz
Liebe Brüder und Schwestern, willkommen und guten Morgen!
In den Katechesen dieser Wochen beschäftigen wir uns mit den Voraussetzungen für eine gute geistliche Unterscheidung. Im Leben muss man ja immer Entscheidungen treffen; und dazu müssen wir einen Weg der Unterscheidung zurücklegen. Jede wichtige Tätigkeit hat ihre „Anleitungen“, die man kennen muss, damit sie die gewünschte Wirkung entfalten können. Heute konzentrieren wir uns auf eine weitere unverzichtbare „Zutat“ für die Unterscheidung: unsere Lebensgeschichte...
Unser Leben ist das wertvollste „Buch“, das uns gegeben wurde: ein Buch, das viele leider gar nicht lesen, oder es zu spät tun – bevor sie sterben. Und doch findet man gerade in diesem Buch, was man auf anderen Wegen vergeblich sucht. Der heilige Augustinus, ein großer Wahrheitssucher, hatte dies verstanden, als er auf sein Leben zurückblickte und darin die stillen und diskreten, aber einschneidenden Schritte der Gegenwart des Herrn bemerkte. Am Ende dieser Reise stellte er erstaunt fest: „Und siehe, du warst im Innern, und ich war draußen und suchte dich dort; und ich, missgestaltet, verlor mich leidenschaftlich in die schönen Gestalten, welche du geschaffen. Mit mir warst du, und ich war nicht mit dir“ (Bekenntnisse X, 27.38). Daher seine Aufforderung, das innere Leben zu kultivieren, um das zu finden, was man sucht: „Kehre in dich selbst ein; im inneren Menschen wohnt die Wahrheit“ (De vera religione, XXXIX, 72).
Das ist eine Einladung, die ich an euch alle aussprechen würde; sie gilt auch mir selbst. Kehre in dich selbst ein, lies dein Leben, lies in deinem Innern. Wie ist dein Weg verlaufen? Kehr in aller Ruhe in dich selbst ein.
Auch wir haben – wie Augustinus – oft die Erfahrung gemacht, in Gedanken gefangen zu sein, die uns von uns selbst entfernen, in stereotypen Botschaften, die uns nicht guttun. Zum Beispiel: „Ich bin wertlos“..., „bei mir geht alles schief“..., „ich werde nie etwas Gutes zustande bringen“..., und so geht das Leben... Sich mit der eigenen Geschichte zu beschäftigen bedeutet auch, diese „toxischen“ Elemente zu erkennen und der Handlung unserer Geschichte dann einen weiteren Rahmen zu geben; zu lernen, andere Aspekte wahrzunehmen, die unsere Geschichte reicher machen; die Komplexität zu respektieren und auch die diskrete Art und Weise zu begreifen, auf die Gott in unserem Leben handelt.
Ich kannte mal eine Person, von der die Leute sagten: Der verdient den Nobelpreis für Negativität! Alles war aus seiner Sicht schlecht, alles, alles... Und er hatte immer die Tendenz, deprimiert zu sein. Eine verbitterte Person - dabei hatte er so viele Fähigkeiten! Doch dann hat diese Person eine andere Person gefunden, die ihr geholfen hat; und jedes Mal, wenn er sich über etwas beklagte, sagte die andere Person: So, und jetzt sag etwas Gutes über dich, um das zu kompensieren! - Ja doch, ich habe auch diese oder jene Fähigkeit... - Und mit der Zeit hat er ihm so geholfen, vorwärts zu kommen und sein eigenes Leben gut zu lesen...
Wir haben gesehen, dass die Unterscheidung einen narrativen Ansatz hat: Sie bleibt nicht bei der Handlung stehen, sondern stellt sie in einen Kontext: Woher kommt dieser Gedanke? ... Wohin führt dieser Gedanke mich? Wann ist er mir schon einmal durch den Kopf gegangen? Ist das etwas Neues, was mir jetzt auf einmal einfällt, oder habe ich das schon früher mal gedacht? Warum ist das jetzt eindringlicher als andere, was will mir das Leben damit sagen?
Wenn wir die Ereignisse unseres Lebens erzählen, werden wir auch wichtige Nuancen und Details erkennen, die sich als wertvolle Hilfen erweisen können und die wir bisher noch nicht wahrgenommen haben. Zum Beispiel eine Lektüre, ein Gottesdienst, eine Begegnung, die auf den ersten Blick unwichtig erscheinen, vermitteln uns mit der Zeit einen inneren Frieden, schenken uns Lebensfreude und regen uns so zum Guten an. Innezuhalten und dies zu erkennen, ist unerlässlich ... für die Unterscheidung: es bedeutet, jene kostbaren und verborgenen Perlen zu entdecken, die der Herr in uns gestreut hat.
Das Gute liegt im Verborgenen, immer. Denn es verfügt über eine Art Scham, es versteckt sich. Das Gute liegt im Verborgenen, im Stillen, es erfordert ein langsames und kontinuierliches Graben. Denn der Stil Gottes ist diskret, es gefällt Gott, im Verborgenen und diskret vorzugehen... Er drängt sich nicht auf; er ist wie die Luft, die wir atmen, wir sehen sie nicht, aber sie lässt uns leben, und wir sind uns ihrer erst bewusst, wenn sie uns fehlt.
Sich daran zu gewöhnen, das eigene Leben immer wieder neu zu lesen, schult den Blick; es schärft ihn und lässt uns die kleinen Wunder erkennen, die der liebe Gott jeden Tag für uns vollbringt. Wenn wir aufmerksam sind, nehmen wir andere mögliche Richtungen wahr, die unser inneres Empfinden, unseren Frieden und unsere Kreativität stärken. Vor allem aber befreit es uns von toxischen Stereotypen. Ein weiser Spruch besagt, dass ein Mensch, der seine Vergangenheit nicht kennt, dazu verdammt ist, sie zu wiederholen. Das ist interessant, nicht wahr? Wenn wir die Straße, die wir in der Vergangenheit zurückgelegt haben, nicht kennen, wiederholen wir immer dasselbe, dann gehen wir im Kreis. Und jemand, der immer im Kreis geht, kommt nie vorwärts, da gibt es keinen Weg. Wie ein Hund, der sich in den eigenen Schwanz beißt...
Wir können uns fragen: Habe ich anderen jemals von meinem Leben erzählt? Das ist etwas Schönes bei den Verlobten: Sobald es aus ihrer Sicht ernst wird, erzählen sie sich gegenseitig ihr Leben. Das ist eine der schönsten und intimsten Formen der Kommunikation...! Sie ermöglicht uns, bisher unbekannte, kleine und einfache Dinge zu entdecken, denn - wie das Evangelium sagt: aus kleinen Dingen entstehen die großen (vgl. Lk 16,10).
Auch das Leben der Heiligen ist eine wertvolle Hilfe, um den Stil Gottes in unserem Leben zu erkennen: Sie helfen uns, uns mit seiner Handlungsweise vertraut zu machen. Manche Verhaltensweisen der Heiligen fordern uns heraus, zeigen uns neue Bedeutungen und Möglichkeiten auf. So erging es zum Beispiel dem heiligen Ignatius von Loyola. Bei der Beschreibung der grundlegenden Erkenntnis seines Lebens fügt er eine wichtige Klarstellung hinzu: „Die Erfahrung hatte ihm gezeigt, dass ihn manche Gedanken traurig, andere fröhlich machten; und nach und nach lernte er die Vielfalt der Geister kennen, die sich in ihm regten" (Bericht des Pilgers, Nr. 8)...
Unterscheidung ist die narrative Lektüre der schönen und der dunklen Momente - man nennt sie Trost bzw. Trostlosigkeit -, die wir im Laufe unseres Lebens erfahren. Unterscheidung ist, wenn unser eigenes Herz uns von Gott erzählt. Und wir müssen nur lernen, seine Sprache zu verstehen. Fragen wir uns, zum Beispiel am Ende eines jeden Tages: Was ist heute in meinem Herzen vorgegangen? Einige denken, so eine Gewissenserforschung bestünde darin, Buch über die von dir begangenen Sünden zu führen... Nein - was ist in mir vorgegangen? Habe ich Freude gefühlt? Warum? War ich traurig - was hat mich traurig gemacht? Auf diese Weise lernen, zu unterscheiden, was in unserem Innern vorgeht. Danke!
(vaticannews - skr)
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