Welttag der Armen: Die Predigt im Wortlaut
Alle Wortmeldungen des Papstes in ihrer amtlichen deutschen Fassung werden auf der Internetseite des Vatikan publiziert.
Und um uns den Weg der Unterscheidung zu zeigen, gibt uns der Herr zwei Ermahnungen: Erstens: Lasst euch nicht irreführen; und zweitens: legt Zeugnis ab. Lasst euch nicht irreführen und die zweite Ermahnung: Legt Zeugnis ab.
Als Erstes sagt Jesus seinen Zuhörern, die sich Sorgen darüber machen, „wann“ und „wie“ die beängstigenden Ereignisse eintreten werden, von denen er spricht: »Gebt Acht, dass man euch nicht irreführt! Denn viele werden unter meinem Namen auftreten und sagen: Ich bin es! und: Die Zeit ist da. - Lauft ihnen nicht nach!« (Lk 21,8). Und er fügt hinzu: »Wenn ihr von Kriegen und Unruhen hört, lasst euch nicht erschrecken!« (V. 9). Das ist in diesem Moment ein guter Rat.
Von welcher Irreführung will uns Jesus also befreien? Von der Versuchung, dramatische Ereignisse auf abergläubische oder pessimistische Weise zu deuten, als ob wir bereits dem Ende der Welt nahe wären und es sich nicht mehr lohnen würde, sich für irgendetwas Gutes einzusetzen. Wenn wir so denken, lassen wir uns von der Angst leiten und suchen dann vielleicht mit krankhafter Neugierde nach Antworten in dem, was uns Magier oder Horoskope auftischen, an denen es nie mangelt. Und heute gehen viele praktizierende Christen zu Magiern und lesen Horoskope, als wäre dies die Stimme Gottes. Oder aber wir vertrauen fantastischen Theorien, die von irgendeinem „Messias“ der letzten Stunde aufgestellt werden und in der Regel immer defätistisch und verschwörungstheoretisch sind. Hier ist der Geist des Herrn nicht zu finden. Nein. Bei den Gurus und im Geist der Komplotte ist der Geist des Herrn nicht zu finden.
Jesus warnt uns: „Lasst euch nicht irreführen“, lasst euch nicht von leichtgläubiger Neugier blenden, begegnet den Ereignissen nicht mit Angst, sondern lernt vielmehr, sie mit den Augen des Glaubens zu sehen, in der Gewissheit, dass durch die Nähe zu Gott „euch nicht einmal ein Haar gekrümmt wird“ (vgl. V. 18). Auch wenn die Geschichte der Menschheit mit dramatischen Ereignissen, schmerzhaften Situationen, Kriegen, Revolutionen und Katastrophen gespickt ist, so ist es doch ebenso wahr – sagt Jesus –, dass all dies nicht das Ende ist (vgl. V. 9); es ist kein guter Grund, sich von Angst lähmen zu lassen oder dem Defätismus derjenigen nachzugeben, die meinen, alles sei bereits verloren und es sei sinnlos, sich im Leben zu engagieren. Der Jünger des Herrn lässt sich nicht durch Resignation verdrießen, er lässt sich auch in den schwierigsten Situationen nicht entmutigen, denn sein Gott ist der Gott der Auferstehung und der Hoffnung, der immer wieder aufrichtet: Mit ihm kann man den Blick immer wieder nach oben richten, neu beginnen und erneut aufbrechen. Der Christ fragt sich also im Angesicht der Prüfung, welcher Art diese auch immer sein mag - kulturell, historisch oder persönlich: „Was sagt uns der Herr durch diese Krisensituation?“. Auch ich stelle diese Frage heute: Was sagt uns der Herr angesichts des Dritten Weltkriegs? Was sagt uns der Herr? Und wenn schlimme Ereignisse eintreten, die Armut und Leid verursachen, fragt sich der Christ: „Was kann ich konkret Gutes tun?“. Nicht weglaufen. Man muss sich diese Frage stellen: „Was sagt uns der Herr?" und „Was kann ich konkret Gutes tun?“.
Es ist kein Zufall, dass die zweite Ermahnung Jesu, nach „Lasst euch nicht irreführen“, positiv formuliert ist. Er sagt: »Dann werdet ihr Zeugnis ablegen können« (V. 13). Es ist eine Gelegenheit, Zeugnis abzulegen. Ich möchte dieses schöne Wort betonen: Gelegenheit. Es bedeutet, die Möglichkeit zu haben, aus den Umständen des Lebens etwas Gutes zu machen, auch wenn sie nicht ideal sind. Das ist eine schöne, typisch christliche Kunst: nicht Opfer dessen zu bleiben, was passiert. Der Christ ist kein Opfer, und die Psychologie des Opferseins ist böse, sie tut uns nicht gut. Der Christ bleibt nicht Opfer dessen, was passiert, sondern ergreift die Chance, die in allem verborgen ist, was uns widerfährt. Das Gute ist möglich. Der Christ nimmt das wenige Gute, das selbst aus negativen Situationen heraus bewirkt werden kann. Jede Krise birgt eine Möglichkeit und bietet Gelegenheiten zum Wachstum. Jede Krise ist offen, in jeder Krise ist Gott und die Menschlichkeit. Doch der böse Geist will, dass wir Krisen in Konflikte verwandeln. Und ein Konflikt ist immer etwas Geschlossenes, ohne Horizont, ohne Ausweg. Nein, leben wir Krisen als Menschen, als Christen. Krisen also nie in einen Konflikt verwandeln. Denn jede Krise ist eine Möglichkeit und bietet Gelegenheiten zum Wachstum.
Das wird uns klar, wenn wir uns mit unserer persönlichen Geschichte beschäftigen: Oft machen wir die wichtigsten Fortschritte im Leben gerade in manchen Krisen, in Situationen der Prüfung, des Kontrollverlusts und der Unsicherheit. Und dann verstehen wir die Aufforderung, die Jesus heute direkt an mich, an dich, an jeden einzelnen von uns richtet: Was tust du, wenn du um dich herum bestürzende Ereignisse siehst, wenn es Kriege und Konflikte gibt, Erdbeben, Hungersnöte und Seuchen? Du, ich, was tun wir? Lenkst du dich ab, um nicht daran zu denken? Amüsierst du dich, um dich nicht zu sehr damit beschäftigen zu müssen? Schlägst du den Weg der Weltlichkeit ein, um diese dramatischen Situationen nicht in die Hand zu nehmen? Schaust du weg, um nichts zu sehen? Passt du dich unterwürfig und resigniert dem an, was passiert? Oder werden diese Situationen zu Gelegenheiten, um das Evangelium zu bezeugen? Heute muss sich das jeder von uns fragen, angesichts so vieler Katastrophen, angesichts des so grausamen Dritten Weltkriegs, angesichts des Hungers so vieler Kinder, so vieler Leute. Kann ich da mein Geld, mein Leben vergeuden? Den Sinn meines Lebens vergeuden, ohne meinen Mut zusammenzunehmen, um weiterzugehen?
Brüder und Schwestern, an diesem Welttag der Armen ist das Wort Jesu eine deutliche Mahnung, jene innere Taubheit zu durchbrechen, die uns daran hindert, den erstickten Schmerzensschrei der Schwächsten zu hören. Auch heute leben wir in verwundeten Gesellschaften und sind Zeugen von Gewalt, Ungerechtigkeit und Verfolgung, genau wie es uns das Evangelium berichtet hat. Es reicht, etwa an die Grausamkeit zu denken, die das ukrainische Volk erleidet: Gewalt, Ungerechtigkeit, Verfolgung.
Darüber hinaus müssen wir uns der Krise stellen, die durch den Klimawandel und die Pandemie ausgelöst worden ist und eine Schneise nicht nur physischer, sondern auch psychologischer, wirtschaftlicher und sozialer Übel hinterlassen hat. Auch heute sehen wir, wie sich Völker gegeneinander erheben, und wir erleben angsterfüllt, wie sich Konflikte massiv ausweiten, wie das Unheil des Krieges den Tod so vieler unschuldiger Menschen verursacht und das Gift des Hasses verbreitet. Auch heute, noch viel mehr als gestern, wandern viele bedrängte und entmutigte Brüder und Schwestern auf der Suche nach Hoffnung aus, und viele Menschen leben in prekären Situationen, weil sie keine Arbeit haben oder weil sie unter ungerechten und unwürdigen Bedingungen arbeiten müssen. Und auch heute, Brüder und Schwestern, sind die Armen die von jeder Krise am stärksten betroffenen Opfer. Aber wenn unser Herz dumpf und gleichgültig ist, gelingt es uns nicht, ihren schwachen Schmerzensschrei zu hören, mit ihnen und um sie zu weinen, zu sehen, wie viel Einsamkeit und Angst sich auch in den vergessenen Winkeln unserer Städte verstecken. Wir müssen in die dunklen verborgenen Winkel unserer Städte gehen. Da sieht man so viel Ausgrenzung, soviel Schmerz, Elend und Armut.
Machen wir uns die klare und deutliche Aufforderung des Evangeliums zu eigen, uns nicht irreführen zu lassen. Lasst uns nicht auf die Untergangspropheten hören; lassen wir uns nicht von den Sirenen des Populismus verführen, der die Bedürfnisse der Menschen instrumentalisiert und Lösungen vorschlägt, die zu einfach und oberflächlich sind. Lasst uns nicht den falschen „Messiassen“ nachlaufen, die im Namen des Profits Erfolgsrezepte verkünden, die nur dazu dienen, den Reichtum einiger weniger zu mehren während sie die Armen zur Marginalisierung verdammen. Im Gegenteil, lasst uns Zeugnis ablegen: Lasst uns inmitten der Dunkelheit Lichter der Hoffnung anzünden; nehmen wir in dramatischen Situationen die Gelegenheit wahr, das Evangelium der Freude zu bezeugen und eine geschwisterlichere Welt aufzubauen; zumindest ein bisschen geschwisterlicher, lasst uns mutig für Gerechtigkeit, Gesetzlichkeit und Frieden eintreten und immer den Schwächsten zur Seite stehen. Lasst uns nicht weglaufen, um heil aus der Geschichte herauszukommen, sondern lasst uns kämpfen, um dieser Geschichte, die wir erleben, ein anderes Gesicht zu geben.
Und wo finden wir die Kraft für all das? Im Vertrauen auf Gott, der Vater ist und über uns wacht. Wenn wir ihm unser Herz öffnen, wird er in uns die Fähigkeit zur Liebe wachsen lassen. Das ist der Weg. In der Liebe wachsen. Nachdem Jesus nämlich von Situationen der Gewalt und des Terrors gesprochen hat, schließt er mit den Worten: »Und doch wird euch kein Haar gekrümmt werden« (V. 18). Was bedeutet das? Dass er bei uns ist, er ist unser Beschützer. Er geht mit uns. Habe ich diesen Glauben? Hast du diesen Glauben, dasss der Herr mit dir geht? Das müssen wir uns immer wieder sagen, besonders in den schmerzlichsten Momenten: Gott ist Vater und er ist an meiner Seite, er kennt mich und liebt mich, er wacht über mich, er wird nicht müde, er kümmert sich um mich und mit ihm wird mir kein Haar gekrümmt werden.
Und ich, wie antworte ich darauf? Indem ich auf Brüder und Schwestern in Not schaue, auf diese Wegwerfgesellschaft, die die Armen ausgrenzt, Menschen mit weniger Möglichkeiten, alte Menschen, das ungeborene Leben: all das wird "weggeworfen" - und wenn ich all das sehe, was kann ich als Christ tun?
Entscheiden wir uns, als von ihm Geliebte, diejenigen Söhne und Töchter zu lieben, die besonders ausgegrenzt sind. Sorgen wir für die Armen, in denen Jesus gegenwärtig ist. Hier in Italien gibt es noch eine alte Tradition: Am Weihnachtstisch lässt man immer einen Stuhl frei für den Herrn - in Form eines armen Menschen, eines Bedürftigen, der vielleicht an die Tür klopfen wird. Ist auch in deinem Herzen immer ein Platz frei für Bedürftige? Ist da ein Platz frei für diese Menschen, oder sind wir so beschäftigt mit unseren Freunden, unseren sozialen Verpflichtungen, dass wir nie Platz für diese Menschen haben? Lasst uns, von ihm geliebt, die besonders Ausgestoßenen lieben. Sorgen wir für die Armen, in denen Christus gegenwärtig ist, der sich für uns arm gemacht hat. Er identifziert sich mit den Armen.
Fühlen wir uns dafür verantwortlich, dass ihnen kein Haar gekrümmt wird. Wir können nicht wie jene, von denen das Evangelium spricht, dabei verweilen, die schönen Steine des Tempels zu bewundern, ohne den wahren Tempel Gottes zu erkennen: Den Menschen, den Mann, die Frau - vor allem den Armen -, in dessen Gesicht, in dessen Geschichte, in dessen Wunden Jesus zu finden ist. Das hat er so gesagt. Vergessen wir es nie. Danke.
(vaticannews - skr/sst)
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