Zum Jahreswechsel: Gedanken von Kardinal Koch
Wir haben Weihnachten gefeiert als das Fest des Lichtes. Das Licht zeigt seine ganze Kraft aber nur auf dem Hintergrund der Dunkelheit, die vom Licht erhellt wird. Diese Erfahrung wird im Wort „Weihnacht“ selbst zum Ausdruck gebracht. Die Nacht steckt nun einmal im Wort; und wie die Nacht im Wort steckt, so steckt sie auch in den Herzen von uns Menschen, in der Geschichte der Welt und auch in der Gemeinschaft der Kirche. Auch im Festevangelium an Weihnachten, das von der Menschwerdung Gottes in Jesus Christus spricht, ist diese Realität enthalten und wird mit den düsteren Worten zum Ausdruck gebracht: „Er war in der Welt, und die Welt ist durch ihn geworden, aber die Welt erkannte ihn nicht. Er kam in sein Eigentum, aber die Seinen nahmen ihn nicht auf“ (Joh 1, 10-11). Grösser könnte der Kontrast nicht sein zwischen dem, was uns an Weihnachten geschenkt ist, und dem, was wir Menschen daraus gemacht haben und weiterhin machen.
Wir stehen am letzten Tag des Jahres und blicken auf das vergangene Jahr zurück. Da begegnet uns derselbe Zwiespalt. Wohin wir auch schauen, begegnen wir viel Dunkelheit und Finsternis. Auch in diesem Jahr mussten wir viel Dunkelheit erfahren, die endloses Leiden unter die Menschen gebracht hat in zahlreichen Waldbränden und Unfällen wie beim Einsturz der Morandi-Brücke in Genua oder beim schrecklichen Tsunami in Indonesien. Auch die Gewaltanwendung an Menschen durch Menschen hat kein Ende gefunden; denken wir nur an das Schulmassaker in Parkland im US Bundesstaat Florida. Als besonders widerlich erfahren wir Gewalttaten, wenn sie im Namen von Religion ausgeübt werden wie wiederum beim Terroranschlag beim Weihnachtsmarkt in Strassburg.
Auch in diesem Jahr mussten wir das Elend so vieler Flüchtlinge zur Kenntnis nehmen. Die Flüchtlingsströme sind so gross, wie wir sie bisher nur aus der Geschichte gekannt haben. Eine Lösung dieses Problems scheint in weiter Ferne zu sein, zumal in Europa die Solidarität weitgehend fehlt, die nötig wäre, um wenigstens das grösste Leid zu lindern. Das Elend der Flüchtlinge offenbart eine tiefe Krise des europäischen Gedankens. Mit dieser Krise dürfte es zusammenhängen, dass in den europäischen Gesellschaften tiefe Spaltungen festgestellt werden müssen, die Extremismen und Radikalismen nähren, wie man an der zunehmenden Verrohung der Sprache in den öffentlichen Auseinandersetzungen beobachten kann.
Spaltungen zeigen sich auch in den Kirchen. Sie haben oft ihre Ursache darin, dass auseinandergerissen wird, was doch unlösbar zusammen gehört. Es gibt Christen, die ein gutes Sensorium für die sozialen Probleme der Menschen haben, sich jedoch nicht mit demselben Engagement für den Schutz des menschlichen Lebens an seinem Anfang und an seinem natürlichen Ende einsetzen. Es gibt aber auch Christen, denen der Schutz des menschlichen Lebens auch vor der Geburt ein wichtiges Anliegen ist, die jedoch nicht mit derselben Überzeugung den Einsatz für die Verbesserung der sozialen Verhältnisse und für den Schutz der Flüchtlinge für eine wichtige Aufgabe der Kirchen halten
Beiden Verhaltensweisen gegenüber ist es wichtig, ein Grundprinzip christlicher Lebensethik in Erinnerung zu rufen, nämlich die Ganzheitlichkeit. Sie impliziert, nicht nur alle Aspekte eines ethischen Problems ins Blickfeld zu rücken, sondern es auch im grösseren Kontext der zahllos anderen Probleme zu verorten. Für eine solche ganzheitliche Sicht hat der im vergangenen Oktober heilig gesprochene Papst Paul VI. in seiner Botschaft zum Weltfriedenstag 1977 ein deutliches Beispiel gegeben: „Die Abtreibung bejahen und den Krieg verwerfen ist ein Widerspruch. Die Abtreibung hingegen verwerfen und den Krieg befürworten oder gar fördern ist ebenso ein Widerspruch. Den Krieg und die Abtreibung wie zwei heterogene Probleme voneinander zu trennen, ist das nicht gleichermassen unlogisch und ungerecht?“ Der Einsatz für die Würde des menschlichen Lebens ist nur dann glaubwürdig, wenn er unteilbar ist, wenn wir Christen uns für die Lebendigkeit der Ungeborenen genauso einsetzen wie für die Menschlichkeit der Geborenen. Nur wenn beides zusammen gesehen wird, lassen sich die Spaltungen überwinden, die auch im vergangenen Jahr in den Kirchen deutlich geworden sind und der Glaubwürdigkeit des „Evangelium vitae“ schaden.
Ein besonders grosser Schaden ist ihm zugefügt worden in den Fällen von sexualisierter Gewalt durch Seelsorger und Repräsentanten der Kirche, die auch im vergangenen Jahr im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gestanden haben. Die sexuellen Missbräuche stellen ein trauriges Kapitel in unserer Kirche dar. Gewiss sind sie in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens festzustellen. Doch in der Kirche sind sie doppelt schlimm. Denn wenn die zwei intimsten Bereiche im menschlichen Leben – die Religion und die Sexualität – miteinander in Konflikt geraten und wenn dies zudem unter dem Baldachin des Heiligen geschieht, dann wirken sich die Verbrechen des sexuellen Missbrauchs doppelt schrecklich aus. Die Kirche hat deshalb eine dreifache Aufgabe. An erster Stelle müssen die Opfer stehen, denen wir Zuneigung und Hilfe schulden. Zweitens muss im Blick auf die die schweren Sünder das Prinzip der Null-Toleranz konsequent angewandt werden. Und an dritter Stelle muss der Prävention alle Aufmerksamkeit gegeben werden, so dass sich solche Verbrechen in unserer Kirche nicht mehr wiederholen können.
Wo viel Licht ist, ist auch viel Schatten. So sagt es eine tiefe Weisheit. Wo viel Schatten ist, braucht es noch mehr Licht. Dies ist die noch tiefere Weisheit des christlichen Glaubens, die wir an Weihnachten gefeiert haben. Denn in der Weihnacht ist in der Nacht unseres Lebens, in der Nacht unserer Welt und in der Nacht auch in der Kirche ein Licht, das Licht schlechthin aufgeleuchtet. In diesem Licht geht uns die Wahrheit auf, die für unser Leben von entscheidender Bedeutung ist und die das grosse himmlische Heer in der Heiligen Nacht verkündet hat: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden den Menschen seiner Gnade“ (Lk 2, 14). Dies ist der weihnachtliche Doppelbeschluss Gottes, den man nicht auflösen darf, den man vielmehr dahingehend zur Geltung bringen muss: Friede auf Erden ist nur möglich, wenn in der Höhe Gott die Ehre gegeben wird.
Die Priorität Gottes ist im christlichen Verständnis des Friedens selbst eingeschrieben. Denn Friede, Schalom ist in der hebräischen Sprache ein Grusswort und zeigt, dass er es mit unseren Beziehungen zu tun hat: mit meiner Beziehung zum Nächsten, mit meiner Beziehung zur Gemeinschaft, mit meiner Beziehung zur ganzen Schöpfung, mit meiner Beziehung zu mir selbst und in diesen vier Beziehungen mit meiner Beziehung zu Gott. Nur dort, wo diese Beziehungen gesund sind, lebt der Friede. Dies gilt vor allem von unserem Frieden mit Gott. Er ist die Grundlage von allem. Der elementarste Friede ist der Friede mit Gott, und alle anderen Friedensformen sind Spiegelungen dieses letztlich entscheidenden Friedens.
Dieser Friede ist uns an Weihnachten geschenkt worden, und die Kirche ist berufen, von diesem Frieden in der heutigen Welt Zeugnis zu geben. Dies ist in vielfältiger Weise auch im vergangenen Jahr geschehen. Ich denke zum Beispiel an das Gebetstreffen in Bari am 7. Juli, zu dem Papst Franziskus alle Patriarchen im Nahen Osten eingeladen hat, um das Ende der kriegerischen Auseinandersetzungen und um den Frieden im Nahen Osten zu beten, genauer darum: „der Nahe Osten möge nicht länger ein Bogen des Krieges sein, der sich über die Kontinente spannt, sondern eine Arche des Friedens, die Völker und Religionen willkommen heisst“[1].
Mit diesem Gebet für die Christen im Nahen Osten ist erneut sichtbar geworden, dass in der heutigen Welt überhaupt Christen in einem Ausmass verfolgt werden, zu dem es kaum geschichtliche Parallelen gibt. Heute finden sogar mehr Christenverfolgungen als in den ersten Jahrhunderten statt. Achtzig Prozent aller Menschen, die heute wegen ihres Glaubens verfolgt werden, sind Christen. Der christliche Glaube ist heute die am meisten verfolgte Religion. Diese erschütternde Bilanz stellt eine grosse Herausforderung zu leidempfindlicher Solidarität mit den verfolgten Christen und Christinnen in der heutigen Welt dar. Sie ist auch eine Einladung zu mehr Einheit unter allen Christen. Denn heute haben alle christlichen Kirchen und kirchlichen Gemeinschaften ihre Märtyrer. Christen werden heute nicht verfolgt, weil sie orthodox oder katholisch, lutherisch oder anglikanisch, sondern weil sie Christen sind. Das Martyrium ist heute ökumenisch, und man muss von einer eigentlichen Ökumene der Märtyrer sprechen. Weil das Leiden so vieler Christen und Christinnen Einheit stiftet, die sich als stärker erweist als die Differenzen, die die christlichen Kirchen noch immer trennen, dürfen wir in der Ökumene der Märtyrer oder, wie Papst Franziskus zu sagen pflegt, in der Ökumene des Blutes das überzeugendste Zeichen der Ökumene heute wahrnehmen.
In der Weihnachtszeit werden wir in besonderer Weise daran erinnert, dass das Martyrium zum christlichen Glauben gehört. Denn auf das Weihnachtsfest folgt am 26. Dezember der Gedenktag des Heiligen Stephanus, des ersten Märtyrers, und am 28. Dezember der Gedenktag der Unschuldigen Kinder, gleichsam des ersten grossen Kindermassakers in der christlichen Geschichte. Der Zusammenhang von Weihnachten und Leiden ist freilich bereits vorausgesagt im Blick auf Maria. Über sie hat der greise Simeon prophezeit: „Dir selbst wird ein Schwert durch die Seele dringen“ (Lk 2, 35). Denn der Widerspruch, der sich gegen das Kind in der Weihnachtskrippe richten und es ans Kreuz führen wird, wird auch zum Schwert, das die Seele Mariens durchbohrt. Maria steht vor unseren Augen als jene Gestalt, von der wir wahres Mitleiden lernen können, indem wir fremdes Leiden als eigenes Leiden annehmen.
So zeigt sich in der Gestalt Mariens konkret, wie eng Licht und Dunkelheit auch in der Heilsgeschichte zusammen gehen. Maria weist uns deshalb auch den Weg, wie auch in unserem Leben das Licht siegen kann. In der Weihnachtsgeschichte des Lukas heisst es nach der Anbetung des Kindes in der Krippe durch die Hirten: „Maria bewahrte alles, was geschehen war, in ihrem Herzen und dachte darüber nach“ (2, 19). Maria ist für das Wort Gottes ganz Ohr und lebt deshalb im Frieden mit Gott. In Maria dürfen wir die Urgestalt der Kirche erblicken, die das Wort Gottes bedenkt, aus ihm lebt und so zu jenem Frieden mit Gott findet, der das Fundament allen Friedens ist, der uns an Weihnachten verheissen und geschenkt ist. Maria ist die Mutter und Königin des Friedens. Am Hochfest der Gottesmutter Maria am 1. Januar begehen wir deshalb zugleich den Welttag des Friedens.
Wir stehen am Übergang vom alten zum neuen Jahr und bitten Maria um ihr Geleit, damit auch im kommenden Jahr das Weihnachtslicht Gottes das Dunkel der menschlichen Geschichte erhellt und damit wir im Frieden mit Gott leben und diesen Frieden zu den Menschen tragen. In dieser Zuversicht legen wir das vergangene Jahr in die Hand Gottes zurück. Denn er ist der Herr aller Zeit und deshalb auch des vergangenen Jahres 2018. Und wir bitten den lebendigen Gott, dass er das kommende Jahr 2019 mit seinem Segen begleite: „Der Herr segne und behüte euch. Der Herr lasse sein Angesicht über euch leuchten und sei euch gnädig. Der Herr wende sein Angesicht euch zu und schenke euch Frieden.“
(vatican news - mg)
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