Warum der Papst sein neues Lehrschreiben in Assisi unterzeichnete
Stefan von Kempis und Gudrun Sailer - Vatikanstadt
Was bedeutet es, dass Papst Franziskus Assisi als Ort der Unterzeichnung gewählt hat?
Gudrun Sailer: Dass der Papst die neue Enzyklika in Assisi unterschreibt, ist ein Hinwenden zu den Werten, die Franz von Assisi verkörpert, und zwar nicht nur im Christentum: Geschwisterlichkeit, Demut, Gerechtigkeit, Schöpfung – und das Sprechenkönnen mit allen Menschen, der Dialog. Franz von Assisi ist ja vor 800 Jahren nach Ägypten gereist, um freundschaftlich mit dem Sultan zu reden, unerhört für die Zeit der Kreuzzüge. Das alles ist Papst Franziskus auch ein Anliegen mit seinem neuen Lehrschreiben. Es geht um eine gerechtere Zukunft für alle. Da passt vielleicht kein anderer Ort der Christenheit besser als Assisi. Ein unverbrauchter Ort, einer, in dem von Macht und Geld nur in quasi umgekehrter Form die Rede ist, als Demut und Armut.
Warum ist die Wahl dieses Ortes etwas Besonderes?
Gudrun Sailer: Es ist eben noch nie vorgekommen, dass ein Papst ein Lehrschreiben in Assisi unterzeichnet. Vielleicht hatte Franziskus auch seine Papstwahl 2013 im Sinn, diesen Ratschlag, den ihm der brasilianischer Kardinal Claudio Hummes in der Sixtina gegeben hat: Vergiss die Armen nicht – daraufhin hat Bergoglio sich als erster Papst seit 1.000 Jahren nicht nach einem anderen Papst benannt, sondern nach einem Heiligen, nach Franz von Assisi, dem „poverello“ („kleinen Armen“). Franziskus schaut wieder einmal auf die Ränder, auf die an den Rand Gedrängten. Und auf die schaut er mit Franz von Assisi, der das Armutsversprechen radikal neu für seine Zeit gelebt hat.
Welche Grundgedanken erwarten uns zum Thema „Geschwisterlichkeit“ und der Corona-Pandemie?
Gudrun Sailer: Die Corona-Pandemie zeigt, dass keiner sich allein rettet. Dass wir einander brauchen. Dass wir nicht erwarten können, gesund zu bleiben in einer kranken Welt. Dass wir alle Geschwister sind, egal ob arm oder reich, katholisch oder jüdisch oder muslimisch oder glaubensfern – wir brauchen einander, und wir haben miteinander eine Verantwortung für die Schöpfung und dafür, wie wir miteinander umgehen. Das werden die Inhalte der Enzyklika sein. Der Papst spricht in Wirklichkeit seit Monaten darüber.
Wie man hört, wird der interreligiöse Dialog eine Rolle in dem neuen Dokument spielen. Warum ist das Thema dem Papst so wichtig?
Gudrun Sailer: Papst Franziskus hat die große Gabe, Allianzen des Guten zu schmieden, wo immer er Anknüpfungspunkte findet. Gerade im Dialog mit Muslimen hat dieser Papst einen großen Schritt nach vorn gemacht. Er hat letztes Jahr ein wegweisendes Dokument gemeinsam mit dem Kairoer Großimam unterzeichnet, ein Dokument darüber, wie wir als Geschwister heute Frieden schaffen können und einer Welt, die Krieg will. „Fratelli tutti“ knüpft daran an. Übrigens wird auch ein muslmischer Gelehrter die Enzyklika im Vatikan mit vorstellen.
Vorab wurde manche Kritik am Titel „Fratelli tutti“ laut, Frauen fühlten sich nicht mitgemeint. Was war da los?
Gudrun Sailer: Auf Italienisch und Spanisch klingt die Anrede „Brüder alle“ nicht so ausschließend, und dem Vatikan ist es deshalb erst spät aufgefallen, dass der Titel in anderen Sprachen wie eben im Deutschen für manche ausgrenzend wirkt. Vermutlich wäre es besser gewesen, für die Enzyklika von Anfang an einen Einstieg zu wählen, der fraglos alle mit meint. Nun hat sich gezeigt, der Titel provoziert bei manchen latente Widerstände, die man leicht hätte vermeiden können. Natürlich sollte der Titel jetzt kein Argument sein, das Dokument nicht zu lesen, denn alle sind gemeint und alle sind gefragt. Übrigens hat auch Franz von Assisi, den der Titel „Fratelli tutti“ zitiert, alle im Blick gehabt und nicht nur die Brüder.
Erwarten Sie weitere Kontroversen im Zusammenhang mit dieser Enzyklika?
Gudrun Sailer: Wer Papst Franziskus schon lange für dies und jenes kritisiert, z.B. für seine Forderung nach einer gerechten Wirtschaft und einem guten Umgang mit der Natur, der wird auch hier reichlich Futter finden. „Fratelli tutti“ bietet eine Zusammenfassung von vielem, was der Papst in den vergangenen Monaten an verstreuter Stelle gesagt und geschrieben hat. Das legt er jetzt nochmal sortiert, gebündelt, konzentriert vor. Der Papst hat sich in diesem letzten Halbjahr der Coronakrise neu als moralisches Weltgewissen zu Wort gemeldet, aber viele haben das gar nicht wahrgenommen wegen der Sturzflut an Corona-News. Da ist es gut, wenn das jetzt auch mal alles gesammelt und auf lehramtlicher Ebene nachzulesen ist.
(vatican news)
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