Nicht nur zur Weihnachtszeit lesenswert: Heinrich Böll
Sophia Hoeff – Vatikanstadt
Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Für die Familie, die Heinrich Böll in der Kurzgeschichte „Nicht nur zur Weihnachtszeit“ beschreibt, heißt das, einen Tannenbaum aufzustellen und ihn mit allerlei Figuren, Kerzen und Lametta zu behängen.
Die Familie lässt sich jedoch beim Dekor durchaus etwas einfallen: Die Hauptattraktion am Weihnachtsbaum sind nämlich gläserne Zwerge, die durch das Schlagen von Korkhammern glockenförmige Ambosse zum Klingen bringen. Die Spitze des Baumes ist mit einem silbrig gekleideten, rotwangigen Engel gekrönt, der in regelmäßigen Abständen „Frieden“ flüstert.
Man kann sich vorstellen, dass der Mechanismus, der Zwerge und Engel in ihrem weihnachtlichen Tun antreibt, ziemlich fragil ist. Gebäck und Süßigkeiten dürfen natürlich auch nicht fehlen.
Manch einer mag sich an seine eigenen Familientraditionen rund um das Weihnachtsfest erinnert fühlen.
Die Schrecken des Krieges
Die Geschichte spielt sich im Jahr 1947 ab. Die Schrecken des Krieges sind noch in lebhafter Erinnerung. Was die Seniorin Milla, die Tante des Protagonisten, jedoch als die größte Einschränkung während des Krieges empfand, war, dass sie ihren Weihnachtsbaum nicht wie jedes Jahr dekorieren konnte. Denn die kleinen Zwerge und Engel fielen bei Fliegerangriffen herunter und zerbrachen sogar bisweilen. Neue Exemplare waren im Krieg nicht zu bekommen.
Für Tante Milla ist es deshalb das Größte, als sie im Jahr 1947 endlich wieder ihren Weihnachtsbaum schmücken kann. Ihr Mann ist ein erfolgreicher Kaufmann, der es versteht, sich im frühen Nachkriegsdeutschland Weihnachtsgebäck und Ersatzdekor für den Weihnachtsbaum zu beschaffen.
Das Dekorieren des Baumes ist wie eh und je ziemlich mühsam und nimmt sämtliche Familienmitglieder in Beschlag. Tanten und Onkel, Nichten und Neffen, Enkel und Enkelinnen kommen zusammen. Zum anschließenden Festschmaus ist auch der Pfarrer eingeladen.
Wie in jeder Familie gibt es auch in Bölls Weihnachtsgeschichte einen Aussteiger, der sich an dem ganzen Rummel nicht beteiligt. Das ist der Vetter Franz. Schon auf den ersten Seiten wird die herannahende Katastrophe angedeutet: Denn Vetter Franz hat die Familie schon früh gewarnt.
Als an Mariä Lichtmess der Baum abgehangen und entsorgt werden soll, passiert es: Tante Milla bricht in hysterische Schreikrämpfe aus. Die vermeintliche Familienidylle löst sich in Unbehagen und Besorgnis auf. Auch die herbei zitierten Psychiater wissen sich keinen Rat. Nur die Idee ihres Mannes, einen neuen Weihnachtsbaum aufzustellen, vermag Tante Milla zu beruhigen. Fortan besteht sie beharrlich darauf, jeden Abend Weihnachten zu feiern. Dazu müssen alle Familienmitglieder samt dem Pfarrer antreten. Doch spätestens im Hochsommer, wenn die Schokokringel vom Weihnachtsbaum tropfen und der Schweiß über den Nacken rinnt, verkommt die Weihnachtsfeier endgültig zur Farce. Der aufwendig dekorierte Weihnachtsbaum ist zum losgelösten Lebensinhalt der Tante geworden, nur dass ihm jeder Inhalt abhandengekommen ist. Lediglich die äußerliche Zeremonie wird noch aufrechterhalten. Der eigentliche Anlass des Feiern ist längst vergessen worden und es liegt nahe, dass er für die Tante noch nie eine Rolle gespielt hat.
Alle Jahre wieder kommt das Christuskind. Was heißt das für uns? Dass wir alles um uns herum vergessen, einen Weihnachtsbaum aufstellen und heile Familie zu spielen? Oder gibt es da nicht einen Grund zu feiern, der uns existenziell betrifft?
Heinrich Böll, der an diesem Donnerstag 100 Jahre alt geworden wäre, lässt keinen Zweifel daran: Nicht das stupide Wiederholen äußerlicher Zeichen macht einen Christen aus, sondern wie er sich in der Welt als Christ bewährt. Vetter Franz, der das schon früh erkannt hat, hätte sicher Freude an dem Buch. Sie auch?
Hinweis:
Heinrich Böll: Nicht nur zur Weihnachtszeit. Erzählungen. dtv 1992, 21. Auflage. 8,90 Euro.
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