Papst Franziskus traf Nadia Murad mehrmals, u.a. im Dezember 2018 im Vatikan Papst Franziskus traf Nadia Murad mehrmals, u.a. im Dezember 2018 im Vatikan  

Aktivistin Murad: Sexuelle Sklaverei entschiedener bekämpfen

Auch nach dem Sieg über den IS im Irak werden sexuelle Gewalt und die Versklavung von Frauen international immer noch nicht ernst genommen. Es mangele hier an politischem Willen, macht die jesidische Menschenrechtsaktivistin Nadia Murad im Interview mit Radio Vatikan deutlich.

Alessandro Gisotti - Vatikanstadt

Die Trägerin des Friedensnobelpreises und UN-Sonderbotschafterin setzt sich nach ihrer Flucht aus den Fängen des Islamischen Staates international für die Rechte der Jesiden und den Schutz von Frauen und Mädchen ein. Anlässlich der jüngsten Papstreise in den Irak wandte sich die junge Frau gemeinsam mit mehreren internationalen Nichtregierungsorganisationen, religiösen Gruppen und Vertretern der irakischen Zivilgesellschaft in einem offenen Brief an Papst Franziskus.

Radio Vatikan wollte von Murad zunächst wissen, welche Bedeutung das irakische Volk der jüngsten Papstreise in den Irak beigemessen hat.

Nadia Murad: Der Besuch von Papst Franziskus im Irak war nicht nur an sich historisch, er kam auch zu einem historischen Moment für das irakische Volk, das sich von Völkermord, religiöser Verfolgung und jahrzehntelangem Konflikt erholen muss. Der Besuch des Papstes hat das Potenzial des Landes für Frieden und Religionsfreiheit unterstrichen und betont, dass alle Iraker - unabhängig von ihrem Glauben - die gleiche Würde und die gleichen Menschenrechte verdienen. Der Papst hat auch die klare Botschaft ausgesandt, dass eine Heilung des interreligiösen Gefüges der irakischen Gesellschaft mit der Unterstützung von Minderheiten wie den Jesiden, die Gewalt und Ausgrenzung ausgesetzt waren, beginnen muss.

Anstoss für andere religiöse Führer

Radio Vatikan: Papst Franziskus hat im Irak auch an das Leid der Jesiden erinnert und hat seinen Irakbesuch in Bezug zu Ihrem Buch „Ich bin eure Stimme“ gesetzt. Was bedeutet es Ihnen, dass der Papst eine solche Aufmerksamkeit für Sie und die Jesiden signalisiert?

Nadia Murad: Während meiner Begegnung mit Papst Franziskus im Jahr 2018 hatten wir ein ausführliches Gespräch über die Erfahrung des Völkermords an der jesidischen Gemeinschaft, insbesondere über die Gewalt, die Frauen und Kinder erleiden. Ich bin froh, dass meine Geschichte bei ihm hängengeblieben ist und dass er sich berufen fühlte, diese Botschaft in den Irak zu bringen. Sein Eintreten für die Sache der Jesiden ist ein Beispiel für andere religiöse Führer in der Region, die Botschaft der Toleranz gegenüber religiösen Minderheiten wie den Jesiden zu verstärken.

Radio Vatikan: Heute sind Sie Menschenrechtsaktivistin, Trägerin des Friedensnobelpreises und erste Sonderbotschafterin für die Würde der Überlebenden von Menschenhandel der Vereinten Nationen (UNODC). Sie haben die Organisation „Nadia's Intitiative“ gegründet, um Frauen zu helfen, die Opfer von Gewalt wurden. Woher nehmen Sie die Kraft dafür, nach all dem, was Sie erlitten haben?

Nadia Murad: Alle Jesiden haben große Überlebenskraft und Widerstandsfähigkeit bewiesen. Die ganze Gemeinde hat ein immenses Trauma erlitten. Wir werden jedoch nicht in der Lage sein, uns selbst aufzurichten und unser Leben aus eigener Kraft wieder aufzubauen. Unsere Gemeinschaft braucht dringend Unterstützung und Ressourcen. ,Nadia's Initiative‘ arbeitet daran, die Jesiden in ihrem eigenen Wiederaufbau zu stärken, indem sie konkrete und nachhaltige Unterstützung leistet.

Mehr Einsatz für versklavte Frauen notwendig

Radio Vatikan: Der Islamische Staat hat den Krieg 2017 verloren, aber Sie erinnern uns daran, dass es immer noch Tausende von Frauen, auch junge Mädchen gibt, die immer noch versklavt sind. Warum ist diese Tragödie nicht beendet - und was sollte die internationale Gemeinschaft hier tun?

Nadia Murad: Die Tatsache, dass 2.800 jesidische Frauen und Kinder nach fast sieben Jahren in Gefangenschaft immer noch vermisst werden, offenbart einen Mangel an politischem Willen, die grundlegenden Menschenrechte der Frauen und ihre Sicherheit zu schützen. Es zeigt, dass sexuelle Gewalt und Sklaverei von der internationalen Gemeinschaft nicht ernst genommen werden. Es sollte sofort eine multilaterale Task Force gebildet werden, deren einziger Zweck es ist, diese Frauen und Kinder zu finden und zu retten.

Radio Vatikan: Sie sagen: ,Ich möchte die letzte Frau auf Erden mit einer Geschichte wie der meinen sein.‘ Was würden Sie heute den vielen Frauen sagen, die unter Krieg und schrecklicher Gewalt leiden?

Nadia Murad: Zu ihnen sage ich: ,Es ist nicht deine Schuld.‘ Globale patriarchalische Systeme sind darauf ausgelegt, uns zu unterjochen, unsere Unterdrückung auszunutzen und Krieg gegen unsere Körper zu führen. Zu überleben und für die Anerkennung dieser Ungerechtigkeiten zu kämpfen, ist ein Akt des Widerstands. Ich möchte ihnen auch sagen: , Ihr seid nicht allein‘. Mehr als ein Drittel aller Frauen auf der Welt erleben sexuelle Gewalt. Das heißt aber nicht, dass wir das akzeptieren müssen. Es gibt in jeder Gemeinschaft Frauen, die überleben, aufstehen und ihre Stimme erheben. Wenn wir uns zusammenschließen, um für unsere Rechte zu kämpfen, wird der Wandel unaufhaltsam.“

Das Interview führte Alessandro Gisotti.

Schicksalstag 3. August 2014

Nadia Murads jesidisches Dorf Kocho im Norden Iraks wurde am 3. August 2014 von Truppen des IS überfallen. Die Terroristen töteten die Älteren und verschleppen die Jüngeren. Kleine Jungen wurden als Soldaten missbraucht, die Mädchen verschleppt und als Sklavinnen verkauft. Nadia Murad verlor an diesem Tag 44 Angehörige und befand sich danach selbst drei Monate in der Gewalt des IS, sie wurde Opfer von Demütigung, Folter und Vergewaltigung. Mit Glück und unvorstellbarem Mut gelang ihr schließlich die Flucht in ein Flüchtlingslager, von wo aus sie zunächst nach Deutschland kam. Heute setzt sie sich weltweit für verfolgte Frauen und Mädchen und die Rechte der Jesiden ein. Sie kämpft zudem dafür, dass die Verbrechen des IS als Völkermord anerkannt werden und die Verantwortlichen vor den Internationalen Strafgerichtshof gestellt werden.

Die Vereinten Nationen ernannten Nadia Murad zur Sonderbotschafterin, darüber hinaus wurde sie mit dem Mutter Teresa-Preis und dem Vaclav-Havel-Preises für Menschenrechte ausgezeichnet. 2018 wurde sie mit dem Friedensnobelpreis geehrt. In ihrem Buch „The Last Girl“ (2017) erzählt sie ihre Geschichte.

(vatican news – pr)
 

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20. März 2021, 13:01