Ukraine/Odessa: „Es ist diabolisch"
Auch auf schärfere Sanktionen gegen Russland hoffe man in der Ukraine, „denn die zur Zeit geltenden Maßnahmen verdienen diesen Namen nicht“, kritisierte der Bischof. Die Ukraine wolle sich „frei entwickeln, der Europäischen Union beitreten und ihren rechtmäßigen Platz unter den Ländern Europas einnehmen, denn dort gehört sie hin. Für ihren festen Willen, ihre sowjetische und kommunistische Vergangenheit abzulegen und sich stattdessen einem freien und demokratischen Europa zuzuwenden, bezahlt die Ukraine derzeit den höchstmöglichen Preis, und das will uns Putin nicht verzeihen.“
Die Ukraine habe keine andere Wahl, als bis zum Ende zu kämpfen und sich durchzusetzen, betonte der Bischof. Wenn manche im Westen von der Ukraine eine Kapitulation um des Friedens willen forderten, so machten es sich diese „allzu einfach“. Szyrokoradiuk: „Wer so redet, dem rate ich: Kommen Sie nach Butscha, Mariupol oder Charkiw, um vor Ort zu sehen, was hier passiert. Dann werden Sie Ihre Meinung ändern.“ Russland verübe eindeutig einen „Genozid“, habe als Ziel die brutale Vernichtung des Volkes und die Zerstörung alles Ukrainischen. Dass die Angriffe auch auf rein zivile Einrichtungen, Wohnblöcke und Häuser gerichtet sind, sei reiner „Terrorismus“. „Die Gewalt richtet sich genauso gegen Dörfer, in denen es keine militärischen Einrichtungen gibt, und sogar gegen kleine Kinder. Das ist furchtbar, jenseits allen Menschlichen. Es ist diabolisch“, so der Bischof.
Lebende Schutzschilder
Bereits 100 Kilometer östlich von Odessa verläuft jedoch nahe der unter viel stärkerem Beschuss stehenden 500.000-Einwohner-Stadt Mykolajiw die Frontlinie, dahinter befinden sich die großen russisch besetzten Gebiete nördlich der Krim. Weiterhin sind die Priester seiner Diözese auch dort tätig, erklärte Bischof Szyrokoradiuk. Er halte mit ihnen Kontakt, doch es sei den Geistlichen kaum möglich, offen über das Erlebte zu sprechen, ohne sich selbst und auch ihre Gemeindemitglieder dadurch in Lebensgefahr zu bringen. Die Bewohner, die nicht rechtzeitig die Region verlassen hätten, würden von den russischen Soldaten nun festgehalten und an der Flucht gehindert, um sie als lebende Schutzschilder einzusetzen, berichtete der Bischof.
Dazu komme es zu vielen Gewaltszenen, zudem verhielten sich die Besatzer „wie Diebe und Räuber, indem sie der Bevölkerung ihre Technik, Autos und alle materiellen Werte stehlen, um das Erbeutete nach Russland abzutransportieren“. In großem Stil würden auch die Getreidevorräte außer Landes gebracht, was selbst die prorussische Militärverwaltung der an der Dnepr-Mündung liegenden eroberten Stadt Cherson jüngst bestätigte. Eine halbe Million Tonnen war es bisher laut Angaben des ukrainischen Agrarministeriums.
Humanitäre und seelische Hilfe
Viele Menschen seien zum Überleben auf diese Hilfen völlig angewiesen, da sie schon zwei Monate mehr kein Gehalt und auch keine Pension mehr bekommen hätten. „Die Armut und die Not sind unvorstellbar groß, und die Waren in den Supermärkten für viele unerschwinglich“, schilderte der Bischof, der selbst bei der Verteilung mithilft, jedoch auch als Seelsorger voll gefordert ist. Er selbst sei ständig in Odessa, feiere täglich mit den Gläubigen die heilige Messe; in seiner Bischofskirche habe man die Zahl der Gottesdienste an Werktagen auf vier erhöht, damit nicht zu viele Gläubige gleichzeitig vor Ort seien. Denn trotz der Drohkulisse gehe auch das sonstige kirchliche Leben weiter: „Vergangenes Wochenende gab es bei uns eine Priesterweihe und zwei Diakonenweihen“, berichtete Szyrokoradiuk. Er sehe es als seine Aufgabe als Bischof, „bis am Schluss bei den Menschen zu bleiben, mit ihnen zu beten, sie zu ermutigen und den Glauben zu stärken, dass Gott andere Pläne hat als Putin“.
In diesem Sinne begrüßte der Bischof von Odessa auch die erneute Initiative des Papstes zu einem weltweiten Rosenkranz für den Frieden in der Ukraine, bei dem Franziskus selbst am Dienstagabend in der römischen Basilika Santa Maria Maggiore unter anderem mit einer ukrainischen Familie betete. Das Gebet sei für die Wiedererlangung des Friedens unabkömmlich, und dem Papst sei der Friede glaubhaft ein Anliegen, sagte Szyrokoradiuk. Dass sich die großen Hoffnungen der Ukraine auf einen Besuch des Kirchenoberhauptes in Kiew nicht erfüllt hätten, bedauerte der Bischof. Das Land und das Volk wären dazu bereit gewesen, doch hieß es aus dem Vatikan zuletzt, eine solche Reise sei derzeit unmöglich.
Orthodoxe Kirchenspaltung nur „Taktik“
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.