Ukraine: Priester untersucht Gräueltaten
17 Jahre lang war er von Seiten der französischen Bischofskonferenz für den jüdisch-christlichen Dialog zuständig; gleichzeitig machte er eine breitere Öffentlichkeit auf den „Holocaust durch Kugeln“ in Babyn Jar bei Kiew aufmerksam. Dort haben deutsche „Einsatztruppen“ binnen zweier Tage im September 1941 an die 34.000 Juden hingerichtet.
Desbois sammelte Aussagen von Überlebenden, und das tat er auch, als vor ein paar Jahren die Terrorgruppe „Islamischer Staat“ Völkermord an Jesiden im Irak beging. Jetzt ermittelt der Geistliche also in den Teilen der Ukraine, die von der russischen Armee überfallen wurden.
„Ein sehr schmerzliches Erwachen“
„Es ist ein großer Schock, aufzuwachen und zu hören, dass Massengräber gefunden werden“, so Desbois im Interview mit Radio Vatikan. „In Europa hatte man seit Sarajevo und Srebrenica keine mehr gesehen. Man dachte, das Kapitel sei abgeschlossen, und plötzlich wacht man auf und hört von Massengräbern von Zivilisten und Soldaten, mitten im 21. Jahrhundert. Das ist ein sehr schmerzliches Erwachen.“
Er müsse an all die Familien denken, die jemanden vermissen und die sich jetzt fragen, ob der Onkel, der Sohn, der Bruder vielleicht in einem der Massengräber von Butscha oder Isjum liegt.
„Ich weiß, wie schwer es für diese armen Menschen ist, angesichts von Massengräbern zu trauern. Im Moment werden alle Massenmorde auf der Erde auf diese Weise begangen: Die Leichen werden in Massengräbern begraben, erstens weil das Angst macht und zweitens, weil man keine Fotos machen kann. Nichts.“
Massengräber seien „die Ausrottung der Erinnerung“. Hier werde das Gedächtnis einer Person gezielt ausgelöscht, weil ja alle Toten in einer Grube durcheinander beigesetzt würden – Kinder, Frauen, Männer.
Wenn eines Tages Mariupol befreit wird...
„Es ist also wirklich die Ausrottung der Identität, und alle Massenmörder wissen das. Ich selbst habe, als ich in Butscha Leichen draußen auf der Straße gesehen habe, gedacht: Das wird nicht mehr lange so weitergehen. Die Russen werden verstehen, dass die Bilder schrecklich sind, und deshalb werden sie die Toten begraben. Und ich denke: Wenn eines Tages Mariupol befreit werden sollte, dann wird es viel schlimmer sein.“
Die Menschen, die in Isjum gefoltert und ermordet wurden, waren nach den bisherigen Ermittlungen von Patrick Desbois „ganz einfache Menschen“ gewesen, „keine Nazis oder Militärs“.
Die Geschichte des Landwirts
„Mein letztes Interview war mit einem 60-jährigen Landwirt, der mit seiner Frau in einem kleinen Weiler in einer Datscha, einem Landhaus, lebte. Das ukrainische Militär hatte bei ihm ein Fahrzeug in einer Scheune abgestellt, bevor es sich zurückzog. Als die Russen ankamen, verriet ihn jemand, und er wurde mit einem Sack über dem Kopf und gefesselten Händen abgeführt.“
Fast fünfzig Tage lang hat das russische Militär diesen Mann in einer Zelle eingesperrt, drei Tage lang wurde er mit Stromschlägen gefoltert.
„Er weiß nicht, wer ihn gefoltert hat, weil er einen Sack über dem Kopf hatte. Und er sagte mir, dass er sich nach diesen drei Tagen das Leben nehmen wollte, weil er die Folter nicht mehr ertragen konnte. Schließlich wurde er mit Gefangenen auf der anderen Seite ausgetauscht.“
Ein ganz einfacher Mann sei das, berichtet der Priester, ein Mann vom Land. Er verstehe nicht, was mit ihm geschehen sei und warum – er habe doch nichts Schlechtes getan.
„Man wollte ihn dazu bringen zu sagen, dass er Teil einer Militäreinheit sei, aber allein wenn man ihn sieht - ich habe ihn via Zoom interviewt -, merkt man, dass das ein einfacher Mann ist. Ich habe auch mit seiner Frau gesprochen, das ist eine einfache Bäuerin. Die Russen kamen in einer Nacht, fesselten sie, luden sie in ein Auto und fuhren mit ihr davon. Sie wollte nicht sagen, was dann passierte, aber man kann es sich vorstellen...“
„Mit offenem Visier“
Mit vielen solcher Zeugen spricht Patrick Desbois in diesen Tagen. Ihm fällt auf, dass sie, wie er sagt, „mit offenem Visier sprechen“: Sie geben bereitwillig ihre Adresse und Telefonnummer an, und sie hoffen auf Gerechtigkeit. Der französische Priester hält es für wichtig, die Aussagen dieser Menschen zusammenzutragen.
„Ja. Damit ihre Stimme gehört wird. Denn sie haben natürlich den Eindruck: Es gibt so viele Verletzte und Tote, da wird man ihrem Fall wenig Aufmerksamkeit schenken… Für uns geht es also auch darum, das Gedächtnis der armen Menschen zu retten, die oft Kollateralopfer sind, Menschen, die sozusagen zufällig getötet oder gefoltert worden sind.“
Desbois hat auch einen jungen Mann interviewt, der von Charkiw aus mit dem Fahrrad Bücher in sein Dorf bringen wollte. „Er wurde auf der Straße angehalten und drei Tage lang gefoltert, um ihn dazu zu bringen, sein Ukrainischsein zu verleugnen und in die russische Armee einzutreten. Er weigerte sich und konnte fliehen. Er hat mir ein Foto von seinem Körper geschickt, auf dem er von Kopf bis Fuß blau ist…“
Der Hauptgrund für die Folterungen ist aus der Sicht des Priesters, dass die Opfer ihr Ukrainischsein aufgeben und die Ukraine verleugnen sollen.
Schockierend: Moskaus Propaganda funktioniert
„Zum Beispiel der 60-jährige Mann, der gefoltert wurde. Seine Frau wollte von Russland aus zu ihm gehen, und man beschimpfte sie mit allen möglichen Ausdrücken und sagte ihr: ‚Geh zurück in dein verkommenes Land‘ usw. – ja, es gibt wirklich den Wunsch, die ukrainische Kultur, die ukrainische Sprache auszurotten. Was mich an dieser ganzen Arbeit von Anfang an am meisten schockiert hat, ist, dass Moskaus Propaganda funktioniert. Die Menschen in Russland glauben daran. Ukrainer müssen sich ständig ausziehen, um zu beweisen, dass sie keine Nazi-Tätowierungen haben.“
Er hätte eigentlich gedacht, dass die Welt die Lehren aus der Propaganda Hitlers, Maos oder der Sowjets gezogen habe und im 21. Jahrhundert nicht mehr auf die Masche hereinfallen würde. Aber da habe er sich leider getäuscht: Bei den einfachen Leuten in Russland verfingen die Lügen Putins und seiner Helfershelfer.
„Die fühlen sich jetzt wie 1941 oder ’43 – als ginge es jetzt noch einmal darum, Europa vom Nationalsozialismus zu befreien. Ich war vor langer Zeit einmal als Redner bei einer Holocaust-Gedenkfeier in Moskau, und alle anderen Redner sagten, Polen seien Nazis, Litauer seien Nazis, Rumänen seien Nazis... ich dachte, das seien alles nur Spinnereien, aber jetzt sieht man, dass es keine Spinnereien sind. Diese Vision von Russland, das jetzt Europa vom Nationalsozialismus befreien muss, ist viel älter als das, was jetzt passiert. Man hat nur nicht den Ernst der Lage erkannt. Man nannte es eine Verzerrung der Geschichte.“
„Es ist eine Massenfolter“
Patrick Desbois hat den Eindruck, dass die Folter in den nordöstlichen Gebieten der Ukraine von längerer Hand vorbereitet und geplant worden ist. „Wenn die in einem Dorf mit 2.000 Einwohnern einen Folterraum einrichten, dann fragt man sich doch: Wie viele davon könnte es in den von den Russen besetzten Gebieten geben? Es ist eine Massenfolter. Ein Landwirt, der mit uns sprach, sagte, dass es mindestens zehn oder fünfzehn Zellen gäbe. Als er das dritte Mal gefoltert wurde, erzählte er mir, dass er mit Tritten gegen die Beine gefoltert wurde, auf dem Boden, weil der Folterraum bereits besetzt war.“
Der Priester bemüht sich, dem Horror so etwas wie eine spirituelle Lesart zu geben. Was er in der Ukraine sieht und hört, erinnert ihn an die ersten Seiten der Bibel, speziell an die Geschichte von Kain und Abel. „Das Verbrechen von Kain an Abel ist leider noch nicht vorüber: Kain tötet Abel weiterhin – und man muss Abel helfen, sich zu verteidigen, würde ich sagen, und die Beweise sichern.“
„Abel, steh auf / es muss neu gespielt werden“, dichtete einst die deutsch-jüdische Lyrikerin Hilde Domin (1909-2006). „Täglich muss es neu gespielt werden. Täglich muss die Antwort noch vor uns sein. / Die Antwort muss ja sein können.“
Patrick Desbois ist auch erschüttert über die Entdeckung, wie leicht Menschen zu Mördern werden können. „Man würde meinen, dass es sich bei denen, die gegen das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ verstoßen, in der Regel um Schläger oder Psychopathen handelt – aber das ist nicht der Fall. Es betrifft Hunderte und Aberhunderte von jungen Russen aller Altersgruppen, wie es auch andere Länder betreffen kann. Ich denke daher, dass die Jugend erzogen werden muss, indem man sagt: ‚Achtung, es gibt nicht die Guten und die Bösen‘. Jeder Mensch ist gefährdet, und jeder Mensch kann, wenn er in einer Welt gefangen ist, in der das Töten legal zu sein scheint, in der das Gebot ‚Du sollst nicht töten‘ abgeschafft wurde, als ein Monster erwachen.“
„Glaubt nicht, dass Mord die Sache anderer Leute ist“
„Glaubt nicht, dass Mord die Sache anderer Leute ist“, sage er jungen Leuten. „Es hängt davon ab, wo ihr seid, und wenn es euch eines Tages erlaubt wird, andere Leute zu töten, dann tut ihr das womöglich, weil ihr das Haus übernehmen oder euch die Besitztümer aneignen wollt. Das menschliche Bewusstsein ist sehr zerbrechlich…“
Wir fragen den französischen Priester auch noch, wie es ihm eigentlich gelingt, trotz seiner täglichen Konfrontation mit furchtbaren Verbrechen seinen Glauben und seine Hoffnung nicht zu verlieren. Seine Antwort:
„In meinem persönlichen Leben ist das Gebet extrem wichtig… denn man hat zwar die Kontrolle über seine Tage, aber nicht über seine Nächte, man kann von schrecklichen Dingen träumen… Für mich lautet der Schlüsselsatz: ‚Wer mir nachfolgen will, der verleugne sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach‘. Es geht also eigentlich jeden Tag darum, sich selbst hintanzustellen, auch seine Ängste und so weiter. Sich immer wieder Gott gegenüberzustellen und sich wieder an die Arbeit zu machen, das ist die einzige Position, die ich durchhalten kann… Ohne das tägliche Gebet hätte ich nie im Leben durchgehalten.“
(vatican news – sk)
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