Bosnien und Herzegowina: Das „Jerusalem des Balkans“
Von Michael C. Hermann, Sarajevo
Die Hauptstraße in Sarajevo: Autos hupen, Kinder spielen, die Sonne scheint. Eine heitere, lebendige Stimmung. Doch der sogenannte Bosnienkrieg von 1992 bis 1995 als Folge des Zusammenbruchs und des Auseinanderbrechens von Jugoslawien ist allgegenwärtig: Viele Mahnmale thematisieren, wie sich die Menschen unterschiedlicher Ethnie und Religion bekriegten. In der Hauptstraße erinnern auf den Gehwegen aufgemalte Blutlachen daran, dass dort Kinder, Frauen und Männer getötet wurden. An vielen Häusern sieht man die Einschusslöcher der Scharfschützen, die von den umliegenden Hügeln die Menschen in der Stadt erschossen.
Einschusslöcher und aufgemalte Blutlachen
Sarajevo, die Hauptstadt mit fast 300.000 Einwohnern, wird auch das „Jerusalem des Balkans“ oder das „Jerusalem Europas“ genannt. Die Bezeichnung soll daran erinnern, dass in der Stadt Christen, Juden und Muslime über lange Zeit gut zusammenleben konnten, auch dank einer damals modernen Gesetzgebung des kaiserlich-königlichen österreichischen Regimes.
„Generell hat meines Erachtens Sarajevo den Namen Jerusalem Europas beibehalten. Es ist nach wie vor ein Miteinander der Menschen und Religionen hier, von Muslimen, Katholiken, Orthodoxen und Juden“. Das sagt Dževada Šuško vom Auslandsamt der Islamischen Gemeinschaft in Bosnien und Hergezowina. „Nach wie vor ist Bosnien-Herzegowina ein Land, das stolz sein kann auf die Präsenz und die Zusammenarbeit, auf das Zusammenleben der verschiedenen Religionsgemeinschaften.“
Vor der Synagoge muss keine Polizei stehen
Vor der örtlichen Synagoge, so berichtet der in Tübingen lehrende Religionswissenschaftler und Bosnien-Experte Stefan Schreiner, muss keine Polizei stehen. Selbst aktuell nicht. Und das gebe es wohl kaum in einer anderen europäischen Hauptstadt.
„Das hat mit der Geschichte der Juden und Muslime hier zu tun, deren Geschichte fast gleichzeitig begonnen hat. Sie hat im 16. Jahrhundert und bis in die Gegenwart hinein eine Form von Convivencia hervorgebracht, die einzigartig ist in diesem Kontext. Nicht umsonst nennt man Sarajevo Jerusalem des Balkans. Und trotz aller Kriege hat diese Convivencia bis zum heutigen Tage Bestand.“
Fragiles Staatswesen
Bosnien und Herzegowina ist eine fragile Gemeinschaft. Sie besteht erstens aus zehn Kantonen der Föderation von Bosnien und Herzegowina. Zweitens gibt es die nach Serbien und faktisch auch nach Russland blickende Republika Srpska. Ein Hoher Kommissar der internationalen Staatengemeinschaft, ebenfalls nicht unumstritten, wacht über das Funktionieren des komplizierten Staates. Konflikte gibt es genug, die wirtschaftliche Entwicklung macht Sorgen, viele Menschen wollen weg, am liebsten nach Deutschland. Wie steht es um diese Gesellschaft? Stefan Schreiner:
„Sie ist auf alle Fälle fragil. Denn die Wunden sind nach wie vor spürbar, so wie sie auch sichtbar sind, wenn man durch die Landschaft fährt. Es gehört zu den ‚Markenzeichen‘ der Landkarte von Bosnien heute, dass die Zahl der Friedhöfe manchmal größer ist als die Zahl der Dörfer. Und das sind natürlich Erinnerungsstätten besonderer Art. Hinzu kommt, dass durch die nachfolgende Entwicklung auch manche ethnischen Säuberungen legitimiert worden sind. Und da muss man natürlich fragen: Inwiefern besteht eine Bereitschaft, diese Geschichte gemeinsam im Diskurs zu verarbeiten?“
Insbesondere die Bosniaken, also die islamisch geprägten Menschen in Bosnien, sehen sich zuweilen unter Druck. Die Islamische Gemeinschaft hat eine spezielle Kommission eingerichtet, die über Religionsfreiheit wacht. Dževada Šuško: „Wir sprechen hier von verbalen Attacken, wir sprechen aber auch von körperlichen Angriffen, von Vandalismus auf muslimischen Friedhöfen, aber auch von einer Art politischer Diskriminierung, indem im Diskurs von Politikern, auch in Medien, Muslime und Islam diskriminiert werden.“
Die Muslime in Bosnien wünschen sich einen Staatsvertrag, in dem die Beziehungen zwischen Religion und Staat dauerhaft geregelt werden. Andere Religionen haben bereits einen solchen abgeschlossen.
Dass alles stabil bleibt: Das hoffen viele Menschen in Sarajevo. Und dass die Gläubigen der großen monotheistischen Religionen gut miteinander kooperieren, sich respektieren und zusammenarbeiten. An der Franziskaner-Kirche des Heiligen Antonius erstaunt ein Hinweis an der Kirchentür: „Das ist auch die Kirche der Muslime von Sarajevo“. Sie kommen hierher zum Beten - hoffentlich bleibt das so.
(rv - mch)
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