Patriarch Pizzaballa: „Der Moment ist sehr schmerzhaft, wir durchleben eine sehr lange Nacht" Patriarch Pizzaballa: „Der Moment ist sehr schmerzhaft, wir durchleben eine sehr lange Nacht" 

Patriarch Pizzaballa: Friedensaufruf trotz blutender Wunden

Die katholische Kirche im Heiligen Land bleibt ein Akteur zwischen den verhärteten Positionen der Kriegsparteien. Vertreter des katholischen Hilfswerks „Kirche in Not“ (ACN) haben vom 15. bis zum 19. Juli das Heilige Land besucht, um den Christen vor Ort ihre Solidarität zu bekunden und Hilfsprojekte anzuschauen. Die Delegation besuchte auch den Lateinischen Patriarchen von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa.

Romano Pelosi - Vatikanstadt

Die päpstliche Stiftung „Kirche in Not“ baut ihre Präsenz und Unterstützung im Heiligen Land aus. Mitte Juli hat eine Delegation die verschiedenen kirchlichen Akteure der Region besucht und die laufenden Hilfsprojekte analysiert. Kardinal Pierbattista Pizzaballa, der Lateinische Patriarch von Jerusalem, hat sich in einem Interview über die politische und wirtschaftliche Lage in der Region, die Rolle der Kirche und die düsteren Zukunftsperspektiven geäußert; seine Worte alarmieren: „Wenn die Wunden noch bluten, ist nicht der richtige Zeitpunkt, von Politik zu sprechen“. Der ehemalige Kustos des Heiligen Landes rief dazu auf, die politischen Diskussionen zu unterbrechen und im gemeinsamen Gebet für den Frieden zu beten. Der Patriarch verglich die Situation in einem Interview Ende Juni 2024 mit den Vatikanmedien mit einer „langen Nacht“: „Der Moment ist sehr schmerzhaft, wir durchleben eine sehr lange Nacht. Aber wir wissen auch, dass Nächte enden“

„Wenn die Wunden noch bluten, ist nicht der richtige Zeitpunkt, von Politik zu sprechen“

Omnipräsente Polarisierung: „Wir haben Katholiken, die in Gaza bombardiert werden“

Pizzaballa erklärt im Interview mit ACN, die Region habe sich schon immer in einem permanenten polarisierten Zustand befunden. Allerdings sei die Lage seit dem 7. Oktober 2023 derart polarisiert „dass, wenn man den Palästinensern gegenüber Nähe zeigt, sich die Israelis verraten fühlen, und umgekehrt.“ Die beiden Kriegsparteien schenken sich nichts, seien in ihren Positionen verhärtet und möchten lediglich auf das eigene Leid aufmerksam machen: „Jeder möchte ein Monopol auf das Leiden haben.“ Während die hebräischsprachigen Katholiken sich über die miserable Situation beklagen, denken die Palästinenser nur an den Gazastreifen. Das Lateinische Patriarchat von Jerusalem ist in sechs Vikariate aufgeteilt: Jordanien, Israel, Zypern, Palästina – einschließlich des Westjordanlands und des Gazastreifens – und zwei für die rund 1.000 hebräisch sprechenden Katholiken und die zehntausenden Migranten und Asylsuchenden. Dabei befinden sich die Katholiken auf beiden Seiten der Front, als Soldaten, aber auch als Bombardierte: „Wir haben Katholiken des hebräischen Vikariats, die mit der Armee im Gazastreifen eingesetzt sind, und wir haben Katholiken, die in Gaza bombardiert werden. Es ist nicht einfach“, so der Patriarch zu ACN. Man müsse einfach eingestehen, dass beide Seiten leiden und Söhne und Töchter verlieren; allerdings wolle man das Leid der Gegenseite nicht anerkennen, obwohl es vor aller Augen sichtbar sei: „Das Leiden des Anderen zu erkennen, ist nicht so leicht, wenn du selbst leidest“, so der Patriarch.

Zum Nachhören - was Patriarch Pizzaballa sagt
 „Wir müssen einen Punkt setzen und ganz von vorne beginnen, auf einer neuen und anderen Grundlage als in der Vergangenheit"
„Wir müssen einen Punkt setzen und ganz von vorne beginnen, auf einer neuen und anderen Grundlage als in der Vergangenheit"

„Das Leiden des Anderen zu erkennen, ist nicht so leicht, wenn du selbst leidest“

Politische Gratwanderung: Keine „falsche Neutralität“

Die politische Großwetterlage im Heiligen Land sei komplex, es gebe zahlreiche Akteure mit teils divergierenden Interessen. Pizzaballa warnte in einem Interview Ende April 2024 mit den Vatikanmedien vor einer simplifizierenden Lesart des Konflikts: „Es ist falsch, den israelisch-palästinensischen Konflikt mit dem Geist eines Fußballderbys zu behandeln. Auch im Westen besteht die Notwendigkeit, miteinander zu reden, sich zu konfrontieren, sich zu dokumentieren.“ Der Heilige Stuhl hatte sich für Frieden und Dialog positioniert, man fordere Dialog und Friedensgespräche in Gaza. Der Heilige Stuhl strebt eine Verbesserung der humanitären Lage an. Der Beobachter der Heiligen Stuhls bei der UNO in New York, Erzbischof Gabriele Caccia hatte in einem Statement vom 13. Juli 2024 einen „Waffenstillstand an allen Fronten, die sofortige Freilassung aller israelischen Geiseln und die ungehinderten Lieferung humanitärer Hilfe für Palästinenser gefordert. Vatikandiplomat Caccia erläuterte zudem auch die „geopolitische“ Position des Heiligen Stuhls: Man halte an der Zwei-Staaten-Lösung fest. Caccia stellte sich deutlich hinter das UNO-Hilfswerk für Palästinenser (UNRWA), gegen das von israelischer Seite schwere Vorwürfe erhoben werden. Dabei solle Jerusalem einen international garantierten Status erhalten, um für Gläubige aller großen Religionen frei zugänglich zu sein. Der Heilige Stuhl behält sich also einen neutralitätspolitischen Spielraum rund um den Israel-Gaza-Konflikt frei. Pizzaballa, der die Kriegshandlungen hautnah miterlebt, ergänzt zur Neutralität, dass es zwar misslich sei, in eine „falsche Neutralität“ zu verfallen, es in seinem Fall aber verzwickt sei: „Mir wird immer wieder gesagt, dass ich neutral bleiben solle. Kommen Sie mit mir nach Gaza, sprechen Sie mit meinen Leuten, die alles verloren haben, und dann sagen Sie mir, dass ich neutral bleiben soll. Das funktioniert nicht“. Zu unterstreichen sei, so der Kardinal weiter, dass die Kirche nicht in den Konflikt hineingezogen wird. Die Kirche darf nicht Teil der politischen oder militärischen Auseinandersetzungen oder der Konfrontation werden, aber präsent müsse man bleiben, in konstruktiver Manier fernab falscher neutralitätspolitischer Manöver: „Wir müssen eine konstruktive Präsenz sein, doch es ist nicht einfach, den richtigen Weg dafür zu finden.“

„In diesem Land hat in der Vergangenheit jemand Mutigeres den politischen Weg des Friedens versucht. Aber es waren immer Versuche, die von oben nach unten verliefen: Vereinbarungen, Verhandlungen, Kompromisse. Sie sind alle kläglich gescheitert."
„In diesem Land hat in der Vergangenheit jemand Mutigeres den politischen Weg des Friedens versucht. Aber es waren immer Versuche, die von oben nach unten verliefen: Vereinbarungen, Verhandlungen, Kompromisse. Sie sind alle kläglich gescheitert."

Die Rolle der Kirche

Die Rolle der Kirche könne und müsse vor diesem Hintergrund darin bestehen, Beziehungen aufzubauen und zu ermöglichen, gerade angesichts der Tatsache, dass der christlichen Gemeinschaft trotz ihrer kleinen Zahl großes Gewicht im öffentlichen Diskurs beigemessen werde. Dies sei wohl auch der Tatsache geschuldet, dass die Christen naturgemäß keiner einzigen Seite zuzuordnen seien – wenn nicht derjenigen der Leidenden, für die sie immer einstünden. Zwar sei es nicht Aufgabe der Kirche, eine politische Vermittlerrolle einzunehmen, doch könne sie dabei helfen, Beziehungen zu knüpfen und Verständnis füreinander erwachsen zu lassen, schließt Kardinal Pizzaballa: „Die Kirche fördert den Dialog und die gegenseitige Anerkennung. Und das tun wir in erster Linie in der Gesellschaft, aber auch zwischen den Institutionen als Ausdruck der Gesellschaft“, so Pizzaballa im April 2024 gegenüber Vatican News.

„Wir müssen eine konstruktive Präsenz sein, doch es ist nicht einfach, den richtigen Weg dafür zu finden“

Miserable wirtschaftliche Lage

Das Patriarchat tut, was es kann, um der kleinen christlichen Gemeinschaft im Gazastreifen zu helfen, doch die Situation ist derart instabil, dass es extrem schwierig ist. Es kann Wochen dauern, Hilfe in die Region zu bekommen, und die Realität vor Ort ändert sich derart schnell, dass es zwecklos ist, längerfristig zu planen. Die Zukunftsperspektiven seien unberechenbar, solide humanitäre Unterstützung deshalb schwierig: „Es ist sehr schwierig, etwas für die Zukunft von Gaza zu tun, doch wir haben Prioritäten. Alle Schulen sind zerstört oder werden als Unterkünfte verwendet, doch die Kinder haben bereits ein Schuljahr verloren und die Familien bitten um Schulunterricht.“ Pizzaballa präzisiert, dass der Gazastreifen nicht die einzige leidende Region sei: „Jeder ist auf den Gazastreifen konzentriert und es ist eine Katastrophe, ein wahres Verbrechen findet statt, doch im Westjordanland ist es ebenfalls dramatisch.“ Die meisten Christen der Region sind vom Tourismus abhängig, der Pilgertourismus sei aber zum Erliegen gekommen. Diejenigen, die in Israel arbeiten, haben keine Einreiseberechtigung mehr: „Wir erleben die höchste Arbeitslosenquote der Geschichte, 78 Prozent, vor allem unter den Christen“, erklärte Kardinal Pizzaballa während des Besuchs von ACN.

In der Region stark engagiert

Das katholische Hilfswerk unterstützt seit vielen Jahren Projekte im Heiligen Land, doch nach den Angriffen des 7. Oktober, die zum aktuellen Krieg führten, wurde die Hilfe erheblich aufgestockt, und ACN war eine der ersten Organisationen, die dem Lateinischen Patriarchat Hilfe angeboten haben. Patriarch Pizzaballa dankte den ACN-Vertretern für die Hilfe trotz schwieriger und unübersichtlicher Lage: Aktivitäten weiterzuleben.  Diese Nähe und konkrete Präsenz in unserer Mitte ist ein Segen, ebenso wie die Unterstützung und Solidarität der Weltkirche für die Mutter Kirche von Jerusalem“, so der Patriarch.

Hintergrund

Die päpstliche Stiftung „Kirche in Not“ („Aid to the Church in Need", ACN) ist eine internationale katholische Organisation, die 1947 gegründet wurde. Ihr Hauptziel ist es, verfolgte und notleidende Christen weltweit zu unterstützen, humanitäre Hilfe als auch die Förderung der Ausbildung von Priestern und Ordensleuten. Die Stiftung wurde von Pater Werenfried van Straaten, einem niederländischen Priester, ins Leben gerufen, um nach dem Zweiten Weltkrieg den deutschen Vertriebenen zu helfen.

Weitere Informationen: https://www.kirche-in-not.de/

(acn – rp)

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20. Juli 2024, 12:08