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Jesidinnen am Tempel von Lalish in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk - Archivbild Jesidinnen am Tempel von Lalish in der Nähe der kurdischen Stadt Dohuk - Archivbild  (AFP or licensors)

Vor zehn Jahren: IS-Terror gegen Jesiden

Es ist ein dramatischer Jahrestag: Zehn Jahre ist es her, dass die Jesiden Opfer eines Völkermords wurden. Die Religionsgemeinschaft, die im Nordirak in der Sindschar-Region und in Nachbarländern beheimatet ist, wurde zwischen 2014 und 2017 von den Dschihadisten des „Islamischen Staates“ verfolgt, wodurch etwa mindestens 200.000 Jeziden zur Flucht gezwungen wurden.

Die islamistischen Extremisten sollen mehr als 5.000 Menschen getötet haben. Nach Angaben der Vereinten Nationen wurden mehr als 6.000 Frauen und Kinder versklavt. Zwischen 2.000 und 3.000 Jesiden gelten noch immer als vermisst.

Dabei haben viele Zeitungsleser und Fernsehzuschauer vor einem Jahrzehnt bestimmt zum ersten Mal erfahren, dass es überhaupt Jesiden gibt. „Der Begriff Jesiden bezeichnet eine Religionsgemeinschaft, deren Entstehung Historiker auf das 12. Jahrhundert datieren.“ Das erklärt uns die französische Anthropologin Juliette Duclos Valois in einem Interview. „Es ist eine Religion, die sich durch Monotheismus und Synkretismus auszeichnet. Sie wurde insbesondere vom Zoroastrismus und vom Islam, vor allem vom Sufismus, beeinflusst.“

Eine der eher unbekannten Religionen des Orients

Also eine der eher unbekannten Religionen des Orients, wie zum Beispiel die Mandäer oder die Drusen. Dabei gibt es Jesiden nicht nur im Nordirak, in Syrien oder der Türkei. In jüngerer Zeit hat sich eine Diaspora auch in Europa gebildet – hauptsächlich in Deutschland, außerdem in den USA und in Australien.


„Obwohl es einige heilige Texte gibt, handelt es sich vor allem um eine Religion der mündlichen Überlieferung. Aus diesem Grund wird sie im Gegensatz zum Islam, Judentum und Christentum nicht als Buchreligion anerkannt. Das ist ein wichtiger Punkt, denn dadurch unterscheiden sich die Jesiden von anderen Religionsgemeinschaften, insbesondere im Nahen Osten. Dies hat Auswirkungen auf den sozialen und rechtlichen Status, der ihnen zuerkannt wird. So sind die Jesiden nach orthodoxer muslimischer Auffassung Kafir, d. h. Ungläubige, Abtrünnige, da sie ein Volk ohne offenbartes Buch sind und somit keine ‚wahre‘ Religion haben.“

Volk ohne Buch

Und das ist genau der Punkt, der im Lauf der Geschichte immer wieder zur Diskriminierung und Verfolgung der Jesiden geführt hat. Darauf hat die Terrorbande „Islamischer Staat“ vor zehn Jahren auf grausame Weise aufgebaut: Ab dem 3. August 2014 führte der IS mehrere Angriffe auf die Sindschar-Region durch; es kam zu Massenhinrichtungen, Folter, Versklavung der Bevölkerung, insbesondere von Frauen und Mädchen als Sexsklavinnen, und zur Zwangsrekrutierung von Jungen für Kampfbataillone der Terrorbande.

Vor zehn Jahren: Genozid an den Jesiden im Irak - ein Bericht von Radio Vatikan

Paradox genug: Das Wüten des IS hat dazu beigetragen, dass sich die Jesiden als eine zusammengehörige Gruppe begreifen. „Die soziale Organisation der Gemeinschaft bildet eine erste Einheit. Der Angriff des Islamischen Staates - und seine gewaltsamen Nachwirkungen - sind für jeden Jesiden ein Ereignis. Dies hat eindeutig zum Aufbau einer Erfahrungsgemeinschaft beigetragen und eine kollektive Wir-Zugehörigkeit wiederbelebt, mit der sich die meisten Jesiden identifizieren. Politisch gesehen ist die Situation etwas anders. Seit der Befreiung des Gebiets und der Ankunft neuer Machtakteure finden sich innerhalb der Jesiden viele Spaltungen. Einige stehen beispielsweise der Demokratischen Partei Kurdistans nahe oder engagieren sich für sie, andere für die YBS (kurdisch: Yekîneyên Berxwedana Şengalê - Widerstandseinheiten von Sindschar), wieder andere für die Hashd al-Shaabi (Volksmobilisierungskräfte) oder für Parteien, die eine Unabhängigkeit der Jesiden unterstützen. Schließlich gibt es auch Rivalitäten zwischen mehreren jesidischen Bataillonen.“


Opfer unterschiedlicher geopolitischer Interessen

Das politische Durcheinander lässt in der internationalen Gemeinschaft viele zögern, sich für die Jesiden zu engagieren. Dabei ist diese Gruppe weiterhin ausgesprochen verwundbar, sie hat keinerlei Schutzgarantien für den Fortbestand ihrer Gemeinschaft, ihrer Identität und ihrer Kultur. Ein entsprechendes Abkommen zwischen Bagdad und der Regierung Kurdistans vom Herbst 2020, das die Sicherheit der Jesiden und den Wiederaufbau nach dem Genozid betrifft, ist immer noch nicht wirksam. Die Jesiden sind weiterhin Opfer unterschiedlicher geopolitischer Interessen in der Region.

„Eine Arena, in der ein Wettstreit zwischen nationalen und regionalen Akteuren ausgetragen wird“

„Ja, und das nicht erst seit kurzem. Nach dem Sturz des Regimes von Saddam Hussein im Jahr 2003 gerieten die Jesiden in den politischen Konflikt um die umstrittenen Gebiete zwischen der Regierung in Bagdad und der Regierung der Region Kurdistan, bei dem es um die Frage ging, ob die Region Sindschar der einen oder der anderen Seite zufallen sollte. Seit der Befreiung des Bezirks dauert dieser Konflikt an, wobei er sich durch die Präsenz neuer politischer Akteure neu konfiguriert. Verschiedene Analysten und die Bevölkerung selbst sehen Sindschar als eine Arena, in der ein Wettstreit zwischen nationalen und regionalen Akteuren ausgetragen wird.“

Türkische und iranische Interessen

Nur zwei Beispiele: Die YBS ist mit der PKK (Arbeiterpartei Kurdistans) liiert, natürlich zum Missfallen der Türkei. Die Hashd wiederum stehen dem Iran mehr oder weniger nahe. Jeder dieser Akteure vertritt seine eigenen Interessen, die weitgehend durch den geografischen Vorteil, den Sindschar bietet, geleitet werden. Die Region grenzt an Syrien, was es allen ermöglicht, sich im grenzüberschreitenden Handel zu engagieren, der beträchtliche Gewinne abwirft. Der Gegensatz zwischen den einzelnen Gruppen und Milizen führt zu allgemeiner Unsicherheit; immer wieder kommt es zu sporadischen Bodenkämpfen und türkischen Bombenangriffen. Vor allem aber können deswegen der Wiederaufbau, die Wiederherstellung von Dienstleistungen, die Entwicklung der Wirtschaft nicht abheben.


„Es gäbe verschiedene Möglichkeiten der Wiedergutmachung und des Wiederaufbaus. Man darf jedoch nicht vergessen, dass es sich dabei um einen langwierigen Prozess handelt. Ein wichtiges Element, insbesondere in seiner symbolischen Dimension, ist sicherlich, dass den Jesiden, die Gewalt durch den Islamischen Staat erlitten haben, Gerechtigkeit widerfährt. Es geht darum, dass Prozesse stattfinden und Personen verurteilt werden. Bisher ist dies nur vereinzelt geschehen. Deutschland hat mehrere weibliche Mitglieder des Islamischen Staates strafrechtlich verfolgt. Es verurteilte zwei von ihnen wegen Völkermords und fünf wegen Unterstützung und Förderung von Verfolgung, Sklaverei und Vergewaltigung.“

„Ihrer Geschichte wieder einen Sinn geben“

Im Irak sieht ein Gesetz für jesidische Überlebende Formen der Entschädigung vor, die hauptsächlich in Geld bestehen. Im Juni 2024 kamen jedoch weniger als 2.000 Personen in den Genuss dieser Leistungen. „Schließlich, und vielleicht am wichtigsten, erfordert der Wiederaufbau, dass für jeden Einzelnen eine Lebensperspektive geschaffen wird. Dies setzt voraus, dass die Situation im Irak Anregungen, Chancen und Möglichkeiten bietet. Derzeit lebt die Mehrheit der Jesiden noch in einer Situation der Vertreibung und damit des Wartens in Lagern in Kurdistan. Nur eine Verbesserung der Lebensbedingungen in Sindschar und im weiteren Sinne im Irak wird es den Jesiden ermöglichen, wieder Raum zu gewinnen, um ihrem persönlichen und kollektiven Werdegang und ihrer Geschichte einen Sinn zu geben.“

(vatican news – sk)

Das Interview mit Juliette Duclos Valois führte Jean-Charles Putzolu von Radio Vatikan
 

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14. August 2024, 10:09