Syrien: Christen in Gefahr?
Der Fall von Aleppo am letzten Wochenende bedeutet einen schweren Schlag für das Regime von Baschar al-Assad – zumal seine Verbündeten Russland und Iran gerade an anderen Fronten engagiert sind und ihm nicht mit voller Kraft beispringen können. Die Minderheiten, vor allem die Christen, sind jetzt in großer Sorge: Wird sie das Schicksal ihrer irakischen Glaubensgeschwister ereilen, wird es also mit ihrer jahrtausendealten Präsenz im Land bald vorbei sein? Was genau führen die islamischen Rebellengruppen im Schilde?
„Um die tieferen Ursachen für dieses Wiederaufleben des dschihadistischen Aufstands in Syrien zu verstehen, muss man nicht nur auf die Geschichte blicken, sondern auch auf die Landkarte des Nahen Ostens.“ Das sagt der französische Forscher und Nahostspezialist Pierre-Jean Luizard im Interview mit Radio Vatikan.
„Die drei Staaten Syrien, Irak und Libanon erleben gerade ähnliche Krisen – man kann sie als Krise des politischen Konfessionalismus zusammenfassen. Dieser Konfessionalismus geht auf die Gründung dieser drei Staaten zurück: Man stützte sich gegen die Mehrheiten auf die Minderheiten. Syrien war spät dran mit einem solchen politischen Konfessionalismus, Libanon und Irak machten das zuerst. Heute sehen wir, dass die staatlichen Institutionen, die unter französischem und britischem Mandat in der Levante und im Irak gegründet wurden, zusammenbrechen. Das liegt daran, dass der Arabische Frühling die Forderungen der Mehrheiten in diesen drei Ländern wiederaufleben lässt: Schiiten im Irak, Sunniten in Syrien und wiederum Schiiten im Libanon.“
Da passiert also gerade mehr als nur ein kurzes Wiederaufflammen eines eigentlich betäubten Bürgerkriegs in Syrien. In der ganzen Region kippt ein jahrzehntealtes politisches Modell, von dem in jedem dieser drei Länder – man muss das ehrlich aussprechen – die Christen einigermaßen profitiert haben. Unser Gesprächspartner Pierre-Jean Luizard sieht, wie er uns eingesteht, „keine mögliche Lösung“ jetzt mit Blick auf Syrien, weil eine „internationale Intervention“ westlicher Länder nicht vorstellbar sei.
Syrien zerfällt in drei Zonen
Die Rebellengruppen, die im Moment Oberwasser haben und die neuen Herren in der zweitgrößten Stadt Syriens sind, zeichnet Luizard als sunnitisch, ansonsten aber sehr vielfältig. Sie stünden für verschiedene territoriale, Clan- und Stammeszugehörigkeiten.
„Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass Syrien in drei große Zonen unterteilt ist: Erstens die vom Assad-Regime kontrollierte Zone, die jederzeit fallen kann. Zweitens die Gegend zwischen Tigris und Euphrat, die kulturell von arabischen Stämmen beherrscht wird, die dem sogenannten ‚Islamischen Staat‘ die Treue geschworen haben. Und drittens das sogenannte nützliche Syrien, zwischen Damaskus und Aleppo, wo ein früherer Zweig von Al-Qaida im Gegensatz zum ‚Islamischen Staat‘ zwar die Legitimität der syrischen Grenzen anerkennt, sich aber mal als dschihadistische muslimische Bewegung, dann wieder nur als politische Bewegung gibt. Wir haben es also mit einer Vielzahl von bewaffneten Gruppen zu tun, die sich oftmals gegenseitig bekämpfen.“
Von internationaler Gemeinschaft nicht allzu viel erwarten
Jetzt allerdings stehen sie zusammen: ein Zweckbündnis gegen al-Assad. Das sei, so Luizard, „eine Demonstration der sunnitisch-arabischen Mehrheit, die seit Jahrzehnten von der Macht verdrängt und unterdrückt wurde“. Er hält es durchaus für möglich, dass es zu einem Sturz des Assad-Clans kommt – und darüber hinaus zu einem Ende des sogenannten politischen Konfessionalismus. Eine schlechte Nachricht für viele Christen. Wird die internationale Gemeinschaft jetzt irgendwie eingreifen?
„Das ist in der Tat die große Frage. Die internationale Gemeinschaft ist ja für eine Teilung des Nahen Ostens verantwortlich, die sie 1920 durch die Mandatspolitik des damaligen Völkerbunds legitimiert hat. Viele Syrer sind darum der Meinung, dass die internationale Gemeinschaft jetzt Verantwortung übernehmen sollte, da die lokalen Akteure nicht in der Lage sind, die Krise selbst zu lösen. Das Problem ist, dass das angesichts der derzeitigen Schwäche der internationalen Institutionen, insbesondere der UNO, kaum vorstellbar ist.“
Wird es also zu neuen Verfolgungen von Minderheiten in Syrien kommen, insbesondere der christlichen Minderheit? Ja, sagt Luizard, die Gefahr besteht durchaus. Die Minderheiten könnten „zu den Hauptzielen der Rebellen- und Dschihadistenbewegungen werden, sobald sie über genügend große Gebiete verfügen“.
„Die christlichen Gemeinschaften laufen Gefahr, ausgelöscht zu werden. Es ist aber wichtig, daran zu erinnern, dass der größte Hass zwischen Sunniten, Alawiten und Schiiten besteht. Bei der Radikalisierung der Identität und der Konfessionen, die wir gerade erleben, wird vermutlich der Hass zwischen Sunniten und Schiiten den größten Schaden anrichten.“
Auswirkungen auf Libanon
Übrigens hat alles, was in Syrien vor sich geht, auch Auswirkungen auf das kleine Nachbarland Libanon. Das Infragestellen von Grenzen und des politischen Systems in Syrien wird zwangsläufig auch im Libanon widerhallen, der bis 1920 Teil von „Großsyrien“ war. Der Forscher sieht in diesem Zusammenhang mit Sorge die Schwächung der schiitischen Gemeinschaft im Libanon, die mit Israels Vorgehen gegen die Hisbollah im Südlibanon einhergeht. Auch im Libanon, so sagt er, könne es zu „Kämpfen zwischen den verschiedenen Gemeinschaften“ kommen. Dann werde es „um den ersten Platz in einem neuen politischen System gehen“.
Das Interview mit Pierre-Jean Luizard führte Olivier Bonnel von der französischen Redaktion von Radio Vatikan.
(vatican news – sk)
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