Ukraine: „Es geht um seltene Erden, um Kraftwerke, aber wer schaut auf uns?"
Gudrun Sailer – Vatikanstadt
Viele Ukrainer kämpfen im Jahr vier des von Russland verursachten Krieges mit existenziellen Sorgen, so Pater Marte. Sie fragen sich, wie sie die Miete bezahlen, Kinder zur Schule bringen oder eine Arbeit finden sollen. Dazu kommt die Unsicherheit der Zukunft.
„Das eine Thema, das alle beschäftigt, ist: Sie können die Zukunft nicht planen. Also soll ich diesen Beruf wählen oder jenen? Soll ich in diese Schule gehen oder in jene? Soll ich ein Studium beginnen? Man kann nur von einem Tag, von einem Monat, von einem Halbjahr ins nächste leben.“
„Wie geht es mit unserem Land weiter?“, frage man sich in der Ukraine jeden Tag. „Natürlich schauen die Menschen die Nachrichten, merken, wie die großen Mächte über sie hinweg scheinbar bestimmen, ohne groß die Ukraine selber einzubeziehen.“ Besorgt beobachten sie internationale Friedensbemühungen, namentlich der Vereinigten Staaten, bei denen sie oft außen vor bleiben. Sie haben den Eindruck, dass über ihr Schicksal entschieden wird, ohne dass sie mitreden können, erklärt Marte. „Was alle Menschen sagen, ist: Sie wollen, dass die Waffen schweigen und dass es zu einer Friedensvereinbarung kommt. Das ist Konsens. Was sie auch sagen, ist: Sie möchten Subjekt der Geschichte sein und nicht Objekt. Eine Frau hat mir gesagt: Ich habe den Eindruck, wir werden nur noch herumgeschoben. Es geht um seltene Erden, um unsere Kraftwerke, aber wer schaut auf uns, auf die Menschen?“
In dieser Lage fühlten sich die Ukrainer und Ukrainerinnen mit Europa enger verbunden denn je. „Sie sind Europäer und Europäerinnen und möchten Europäer und Europäerinnen sein. Das ist der Obersatz.“ In dieser Woche hat die EU, mit Ausnahme Ungarns einstimmig, eine weitere substantielle Unterstützung der Ukraine beschlossen – und sie hat sich außerdem für ein massives Aufrüstungsprogramm entschieden.
„Politisch ist es aus meiner Sicht wichtig, dass man nicht nur auf das Militär setzt“, kommentiert der Jesuit. „Es braucht jetzt das Militär. Das ist die Aufgabe des Staates, seine Bürger zu verteidigen. Aber es braucht eine Form des friedlichen Zusammenlebens, einer Koexistenz. Und das geht über die Waffengewalt hinaus. Es braucht Investitionen in Erziehung, in Bildung, auch in humanitäre Hilfe. Und ich finde, das ist die Aufgabe der Kirche jetzt, zu schauen, dass das nicht zu kurz kommt.“
Besonders beeindruckt haben den Rektor des Innsbrucker Jesuitenkollegs, der auch beim Jesuit Refugee Service eingebunden ist, in der Ukraine die Frauen, die das Leben vor Ort am Laufen halten. „Natürlich gibt es überall ganz engagierte Männer, Bischöfe, Priester, Caritas-Direktoren. Aber beeindruckt haben mich die Frauen, die die Nachbarschaftshilfe organisieren, die organisieren die Rechtsberatung, sie organisieren für behinderte Wohngemeinschaften. Die versuchen ein normales Leben für ihre Familien, für ihre Kinder, für die ihnen an Vertrauten aufrechtzuerhalten.“
Space of Hope in Tschernowitz
Seine Reise führte den Ordensmann unter anderem nach Tschernowitz und Transkarpatien. In Tschernowitz begleiten Jesuiten psychologisch belastete Familien. Dort zeigt sich, wie sehr der Krieg nicht nur physisch, sondern auch seelisch belastet. Marte: „Tschernowitz ist eine alte österreichische Stadt aus der Monarchie mit einer großen Tradition, auch literarisch, künstlerisch, einer großen jüdischen Gemeinde, die es dort gegeben hat. Dort haben die Jesuiten ein Haus gebaut, das heißt Space of Hope, wo sich Mütter und Frauen von Soldaten jede Woche treffen. Ein Jesuit, der auch zugleich Psychotherapeut ist, begleitet diese Gruppen und kann Einzelgespräche führen. Das ist, glaube ich, der erste Anlaufpunkt für viele Menschen. Sie brauchen jemanden, bei dem sie ihr Herz ausschütten können, und zwar auf einer sehr einfachen Ebene. Nicht komplizierte Terminvereinbarungen, sondern dass ich einfach mal reden kann.“
In Transkarpatien, wo große Teile der ungarischen Minderheit Ukraines leben, sind die direkten Kriegsauswirkungen geringer, doch betroffen ist dort trotzdem jeder, hat der Besucher aus Österreich erfahren. Selbst wenn keine Raketen einschlagen, hinterlässt der Krieg tiefe Spuren. „Eine Mitarbeiterin der Caritas hat mir gesagt, in jedes Haus bei uns hat eine Rakete eingeschlagen, denn in jedem Haus gibt es eine Familie, die einen Soldaten an der Front hat oder einen Freund oder die Kinder sind in den Westen geflüchtet oder man hat intern Vertriebene aufgenommen. Also es gibt eigentlich kein Haus, das nicht betroffen ist dort.“
Die Jesuiten engagieren sich mit einer kleinen Gruppe von zwölf Patres in der Ukraine. Sie setzen sich für Bildung, humanitäre Hilfe und spirituelle Begleitung ein. Dabei spielt die griechisch-katholische Kirche eine entscheidende Rolle. Gerade in Krisenzeiten bietet sie vielen Halt. „Eine Frau hat mir gesagt, das Gleichnis vom Haus auf den Felsen stimmt. Wer einen Felsen hat, eine Transzendenzbeziehung, der kommt in die Kirche, erlebt dort Gemeinschaft, gemeinsame Liturgie, gemeinsames Beten, gemeinsam weinen, gemeinsam für die Kranken, für die Toten beten. Wer das nicht hat, der ist den ganzen Tag am Handy, schaut sich alle Nachrichten an und wird depressiv. Das ist Sand - und auf dem kann man nicht bauen.“
(vatican news – gs)
Danke, dass Sie diesen Artikel gelesen haben. Wenn Sie auf dem Laufenden bleiben wollen, können Sie hier unseren Newsletter bestellen.