Drei Jahre nach Ahr-Flut: „Wünsche uns langen Atem“
In einem Interview mit dem Kölner Domradio spricht Pfarrer Jörg Meyrer von Bad Neuenahr-Ahrweiler über die äußeren und inneren Baustellen der Menschen im Ahrtal.
Interview
Herr Pfarrer, Sie haben diesen Tag und vor allem auch die Nacht auf den 15. Juli hautnah miterlebt. Welche Erinnerungen haben Sie noch an diese Flutnacht?
„Das sind Erinnerungen an viele vergebliche Versuche, das Wasser irgendwie rauszuhalten oder zu denken, wir könnten das im Vorfeld. Als das Wasser in der Nacht kam, das habe ich sehr lebendig in Erinnerung. Ich war bei der Feuerwehr und wollte zurück in die Stadt. Ich musste durch eines der Stadttore in der Stadtmauer. Ich kam nur noch hüfthoch durch das Wasser. Die Schlaflosigkeit dieser Nacht ist in Erinnerung geblieben. Am präsentesten ist vielleicht noch das Wachwerden oder der Aufgang der Sonne. Geschlafen habe ich nicht. Als die Sonne kam, war das verheerende Ausmaß zumindest auf dem Marktplatz von meinem Fenster aus zu sehen. Das erste Hineintasten in dieser Wasserschlammwüste, das sind Bilder, die sich in mein Herz eingeprägt haben.“
Wann war Ihnen klar, dass in dieser Nacht etwas passiert, das das Ahrtal und die Menschen dort für immer beschäftigen wird? War das schon am Morgen danach, als die Sonne aufging?
„Ja, da war es klar. Da war mir sehr deutlich, unsere Heimat ist zerstört und es wird uns lange beschäftigen. Allerdings hatte ich damals noch nicht im Blick, dass es so lange sein würde.“
Sie haben damals in den Interviews gesagt, dass Ihr Platz als Seelsorger und Pfarrer in den Stunden, Tagen und auch Wochen nach der Katastrophe insbesondere bei den Menschen ist. Was konnten Sie tun? Haben Sie die Menschen überhaupt so schnell erreichen können?
„Das Erreichen der Menschen war einfach. Wir waren dort, wo die Menschen sind, beim Ausräumen, in den Straßen, auf den Plätzen, dort, wo es Essen gab. Wir haben zugehört, ich und meine Kolleginnen und Kollegen, die verfügbar waren. Wir haben zugehört, haben uns umarmt, wir haben miteinander geweint und versucht, das Leid zu teilen, ins Wort zu bringen und den Menschen zu sagen: Wir sind da und wenn es geht, dann beten wir auch für euch.“
Ich kann mir vorstellen, dass da viel Sprachlosigkeit war, oder?
„Ja, das gab es auch. Das war in der ersten Zeit schwierig, das Unsagbare überhaupt ins Wort zu bringen. Das begleitet viele Menschen bis heute, dass sie nicht ins Wort bringen können, was alles auf ihrer Seele liegt. Da gibt es heute noch viele Baustellen.“
Am 15. Juli 2021, dem Tag nach der Flutnacht, war im Ahrtal nichts mehr wie vorher. Völlige Veränderung, eine andere Welt. Kann die Region wieder wie vorher werden? Oder bleibt es für immer diese andere Welt?
„Nein, wir bauen unsere Heimat wieder auf. Das war die Botschaft der ersten Wochen und die Kraft, immer wieder zusammen zu kommen. Wir bauen das wieder auf, was zerstört ist. Es wird eine andere Welt bleiben. Ich glaube, vor allem in den Herzen und in den Seelen der Menschen wird diese Wunde bleiben, die diese Nacht uns zugefügt hat. Das wird nicht weggehen.“
Pfarrer Meyrer, wie sieht es jetzt bei Ihnen in der Region aus?
„Es gibt vieles, was fertig ist, was aufgebaut ist, vor allem im privaten Bereich. Viele Häuser sind schöner als vorher geworden. Da steckt unendlich viel Mühe drin und auch ein langer Atem. Aber es gibt auch noch immer die großen Baustellen im öffentlichen Bereich, die Straßen, die Brücken, die Kindergärten und Schulen. Auch unsere Kirchen sind noch lange nicht fertig… Es gibt einen doppelten Blick. Einmal mit viel Dankbarkeit, aber auch mit viel langem Atem, der immer wieder auf Baustellen, Zäune, auf Verbotsschilder und Umleitungen trifft. Auch auf Provisorien, die uns sicher noch eine ganze Weile begleiten. Da gibt es zwei Herzen und zwei Blicke.“
Haben Sie eine Vorstellung, wie lang die Aufbauarbeiten noch dauern werden?
„Ich kenne nur die Zahlen für die Wiederherstellung der Brücken. Das sind noch sieben Jahre.“
Sie sind als Pfarrer und Seelsorger weiterhin viel mit den Menschen dort in Kontakt. Kommen immer noch Fragen wie ‚Warum ist uns das eigentlich passiert in dieser Nacht im Juli 2021‘? Und wenn ja, was sagen Sie dann?
„Es gibt immer Gespräche über die Nacht. Es vergeht eigentlich kein Seelsorgegespräch, das aus anderen Gründen angesetzt ist, ohne dass wir auch auf die Flutkatastrophe kommen. Die Frage nach dem Warum höre ich selten. Es ist eher die Frage: Wie lebe ich damit? Wie kann ich damit leben? Was beschäftigt mich da immer noch davon? Es ist so, dass manche in dieser Nacht ein Trauma erlebt haben und diese Traumata werden nicht alle ohne Hilfe durchstehen können. Wir haben da, glaube ich, noch einen weiten Weg vor uns. Denn wenn die Arbeiten im Äußeren für viele geschafft sind, werden die inneren Baustellen sich lauter melden und die Seele wird ihr Recht fordern. Das braucht, glaube ich, noch viel Begleitung.“
Welche guten Ratschläge können Sie geben, wenn diese Fragen kommen? Wie lebe ich eigentlich weiter?
„Das eine ist, die Wunden und die Verletzungen gut in den Blick zu nehmen. Das gilt wie bei allen anderen Traumata, die Menschen beim Tod eines lieben Menschen erleben. Es sind jedoch auch andere Menschen, die Traumata erleben. Es ist wichtig, die Wunden gut in den Blick zu nehmen, darüber zu sprechen, soweit es möglich ist, sich Hilfe zu suchen. Wenn man merkt, das hält auf eine lange Zeit hin an, wenn man es versucht, mit eigenen Mitteln, dann ist die Normalität, das Schöne, eine große Hilfe. Man sollte sich auch Zeit geben. Wenn man müde ist, ist man müde. Dann darf man auch müde sein, denn wir haben viel geschafft.
Was wünschen Sie sich in der Gegenwart und für die Zukunft des Ahrtals?
„Ja, ich wünsche mir für die Menschen hier viel Mut, dass sie den Weg weitergehen. Ich wünsche mir viel Dankbarkeit, dass wir das sehen, was wir schon geschafft haben. Die Dankbarkeit ist, glaube ich, der Träger und die Kraft, nach vorne zu schauen. Ich wünsche uns allen den langen Atem, den wir noch brauchen, um durch diese Katastrophe innerlich und äußerlich durchzukommen.“
Das Drama im Ahrtal
Der Starkregen und das Hochwasser vom 14. und 15. Juli in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz war eine der folgenschwersten Naturkatastrophen in der Geschichte der Bundesrepublik. Insgesamt kamen mehr als 180 Menschen ums Leben, hunderte wurden verletzt. Es entstanden Schäden in zweistelliger Milliardenhöhe. Bund und Länder wollen für den Wiederaufbau von Häusern und Infrastruktur bis zu 30 Milliarden Euro zur Verfügung stellen.
(domradio.de – sk)
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