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Fast nichts ist wie vorher (Symbolbild, Aufnahme zeigt Tsunamifolgen an einem Haus) Fast nichts ist wie vorher (Symbolbild, Aufnahme zeigt Tsunamifolgen an einem Haus)  (ANSA)

Missbrauchsfolgen: Kein Wiederaufbau wie bei Notre-Dame

Nach dem Missbrauch gibt es kein Zurück ins alte Leben, sondern nur die Suche nach Lebendigkeit, sagt die französische Therapeutin und Fürsprecherin für Missbrauchsüberlebende Isabelle Chartier-Siben. Über den Prozess der Heilung, die Besonderheit kirchlichen Missbrauchs und die Notwendigkeit von Professionalität bei der Begleitung von Betroffenen spricht sie im Interview mit Radio Vatikan.

Die Psychologin und studierte Theologin Chartier-Siben begleitet seit 30 Jahren Missbrauchsüberlebende. Ihre bislang etwa 1.000 Patienten erlebten Missbrauch im kirchlichen wie nicht-kirchlichen Bereich. Im Interview mit Radio Vatikan nutzt die Fachfrau ein Bild, um die Folgen von Missbrauch zu verdeutlichen. Nach dem Erlebten könnten sich die Überlebenden nicht wieder so herrichten wie die Pariser Kathedrale, die nach einem Brand originalgetreu wieder aufgebaut wurde. Missbrauchsüberlebende könne man nicht „reparieren“, erläutert sie.

„Es gibt kein Zurück zum Vorher. Diese Menschen haben traumatische Erfahrungen gemacht, sehr schlimme Dinge erlebt, die sie in ihrem Gehirn nicht verarbeiten konnten, weil sie so heftig und unerwartet waren. In meiner Praxis gehen wir deshalb nicht auf die Suche nach dem Verlorenen, sondern nach etwas Neuem. Meine Aufgabe ist es, diesen Menschen dabei zu helfen, Lebenssplitter unter den Trümmern zu finden.“

Ein langer Weg

Dies sei ein langer Weg der Neukonstitution, so die Psychologin. Der erste Schritt dabei sei, sich des erlittenen Schadens und aller Folgen des Missbrauchs bewusst zu werden, die sich im Bereich der Emotionen und Sexualität, im sozialem Leben, Beruf und in Freundschaften bemerkbar machen können. Es gelte klar zu benennen, wer missbraucht und wer Missbrauch erlitten habe. Nach dieser Klärung könne man einen Weg der Heilung angehen.

„Um sich wieder aufzurichten, müssen die Opfer tief in ihrem Inneren nach lebendigen Kräften suchen, die sie der Tiefe ihres Traumas entgegensetzen können.“

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„Der zweite Schritt ist eine Therapie, die auf jede Person zugeschnitten ist. Ich stelle mich ganz auf die Person ein, auf ihre Wünsche, ihre Erfahrungen und ihre Gefühle, um mit ihr zusammen zu versuchen, Triebfedern zu finden, die es ermöglichen, Leben aus dieser Katastrophe hervorzubringen. (…) Um sich wieder aufzurichten, müssen die Opfer tief in ihrem Inneren nach lebendigen Kräften suchen, die sie der Tiefe ihres Traumas entgegensetzen können.“

Manchmal werde dieses Heilungspotential von Menschen im Umfeld der Betroffenen nicht erkannt, bedauert die Psychologin. Es brauche auch Geduld, um Missbrauchsüberlebende zu unterstützen, ihren eigenen Weg der Heilung zu finden. Man dürfe sie dabei nicht in eine bestimmte Richtung lenken, betont Chartier-Siben.

Jedes Opfer ist eine Welt

Jedes Opfer ist eine Welt“, formuliert sie. „Und ich möchte nicht, dass unter dem Vorwand, dass man sich jetzt um die Opfer kümmert, eine Art Zwangsjacke über sie gestülpt wird, die sie dazu zwingt, auf eine bestimmte Art und Weise zu denken. Respektieren wir die Freiheit und die Tiefe der Opfer.“

Die französische Therapeutin, die auch studierte Theologin ist, betont, wie wichtig Professionalität bei der Betreuung von Missbrauchsüberlebenden ist. Sie habe an manchen Orten eine „fast tödliche Verwechslung zwischen dem Psychologischen und dem Spirituellen erlebt“, berichtet sie. Um Betroffene auch spirituell wieder aufzurichten, brauche es Fachkenntnis und Unterscheidungsvermögen.

 

„In unserem Verband empfangen wir Personen, die von Spezialisten begleitet wurden, die keine Christen waren und die den Glauben in extremen Fällen als Wahnvorstellung ansahen. Als Gläubige, die Theologie studiert hat, kann ich erkennen und zuordnen, was psychologisch, was spirituell und was auch, woran ich selbst arbeite, spirituell fehlgeleitet ist.“

Psychische Traumata allen Opfern gemeinsam

Psychische Traumata seien allen Opfern von Missbrauch gemeinsam, ob im Raum der Kirche oder außerhalb – „unabhängig davon, ob es sich um ein Attentat, eine Vergewaltigung oder geistlichen Missbrauch handelt“, so die Fachfrau. Bei Opfern, die in der Kirche missbraucht werden, gebe es jedoch auch Besonderheiten.

„Das Besondere an den Phänomenen der Kirche ist, dass es eine Einflussnahme gibt und dass die Person oft von Anfang an nicht erkennt, was sie gerade erlebt. Wenn Menschen zum Beispiel Opfer eines Attentats werden, gibt es so etwas nicht. Da ist die Therapie direkter zugänglich, weil die Person weiß, was sie erlebt hat, sie eine Erinnerung daran hat und alle um sie herum erkennen, was sie erlebt hat.“

„Missbrauch in der Kirche hat noch schwerwiegendere Folgen, weil Gott zum Missbrauch benutzt wird.“

Beim kirchlichen Missbrauch sei es komplizierter: hier müssten das Erlebte analysiert, Symptome verstanden und auf den Ursprung des Traumas zurückgeführt werden – eine nahezu archäologische Arbeit, eine Spurensuche. Außerdem habe Missbrauch in der Kirche „noch schwerwiegendere Folgen, weil Gott zum Missbrauch benutzt wird“, so Chartier-Siben mit Blick auf geistlichen Missbrauch, der auch den Weg zu Trost und Heilung im Glauben an Gott zerstört:

Schiff im Sturm

„Wenn der Missbrauch von der Kirche ausgeht, wird die Verbindung zu Gott, die Beziehung zu Gott beschädigt, das heißt, es gibt keine Hoffnung mehr für die Opfer, da die letzte Hoffnung oft Gott ist. Das ist schlimm von den Konsequenzen her und auch von der Art und Weise, wie es gemacht wird, weil alles Schöne, Gute und Richtige, das von der Kirche gepredigt wird, verdreht wird.“

Geistlicher Missbrauch ist eine Form des Machtmissbrauchs, bei dem Täter spirituelle Praktiken oder Glaubensinhalte missbräuchlich nutzen, um Opfer unter Druck zu setzen, zu manipulieren oder gefügig zu machen. Das Thema rückte im Zuge der kirchlichen Missbrauchsskandale zunehmend in den Fokus. Als Christin ist die Therapeutin davon überzeugt, dass im Zuge der Missbrauchskrise auch neue Kräfte der Heilung freigesetzt werden können. Wegducken sei keine Lösung.

„Heute möchte man sich übergeben, wenn man sieht, was alles passiert ist und was noch passiert. Aber das ist der Moment, in dem man seine eigenen Kräfte verzehnfacht und sich in Gott verankert.“

„Das Bild, das mir dazu einfällt, ist das Bild eines Schiffes auf See während eines Sturms. Die Kirche befindet sich heute in einem Sturm. Aber es ist nicht der Moment des Sturms, in dem wir uns hinlegen. Im Sturm ist uns tatsächlich zum Kotzen zumute - heute möchte man sich übergeben, wenn man sieht, was alles passiert ist und was noch passiert. Aber das ist der Moment, in dem man seine eigenen Kräfte verzehnfacht und sich in Gott verankert. Es ist der Moment, in dem man alles daransetzt, durchzuhalten, in der akuten Phase, aber auch auf lange Sicht.“

Es geht um Leben und Tod

Beim Einsatz für die Betroffenen brauche es eine „extreme Kompetenz“, insistiert die erfahrene Therapeutin Chartier-Siben. Aus mehreren Gründen. Der wichtigste: Es geht um Leben und Tod. „Je weiter ich komme, desto mehr wird mir klar, dass Inkompetenz Leben zerstören kann. Durch unsere Inkompetenz, durch ein Wort, ein falsches Wort, können wir jemanden an die Grenzen des Lebens oder sogar in den Selbstmord schicken.“

„Opfer sind nicht immer sanftmütig und müssen es auch nicht sein, damit die Energie ihrer eigenen Identität wieder in ihnen zum Tragen kommt.“

Auf Missbrauchsopfer spezialisierte Therapeuten gebe es wenige, so die Französin. Die Begleitung von Betroffenen erfordere neben Fachkompetenz auch „eine gewisse innere Stärke“ und sei herausfordernd. Zugleich liege in der Tiefe des Erlebten und der Resilienz der Betroffenen auch ein immenser Reichtum. „Opfer sind nicht immer sanftmütig und müssen es auch nicht sein, damit die Energie ihrer eigenen Identität wieder in ihnen zum Tragen kommt. Man braucht Geduld, weil man die Zeit nicht beherrschen kann, und Unterscheidungsvermögen, um auf manchmal unwahrscheinlichen Wegen zu begleiten.“

„Unterscheidungsvermögen, um auf manchmal unwahrscheinlichen Wegen zu begleiten“

Kompetenz und Unterscheidungsvermögen

Kompetenz und Unterscheidungsvermögen brauche es auch beim Sprechen über das Thema in der Öffentlichkeit, gibt die Psychologin weiter zu bedenken. Gesellschaft und Kirche mit Opfergeschichten zu überfluten, sei kontraproduktiv und löse Abwehrreaktionen aus, denkt sie. Es solle hingegen „spezielle Orte und Zeiten geben, in denen die Opfer wirklich berücksichtigt werden, entsprechend dem, was sie erlebt haben”, schlägt sie vor. Die Fähigkeit zur Mitempfindung mit Leidenden dürfe nicht strapaziert, sondern müsse kultiviert werden.

Um Betroffenen zu Wort zu verhelfen, hat Chartier-Siben selbst den Verein „C’est-à-dire“ (übersetzt etwa „Das bedeutet“) gegründet. In einem aktuellen Buch „3 jour dans la nuit“ („Drei Tage in der Nacht“, erschienen im April 2024) stellt sie Lebens- und Heilungsgeschichten von Betroffenen vor.

Das Interview mit Isabelle Chartier-Siben führte Jean-Benoît Harel für Vatican News.

(vatican news – pr)

 

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14. Mai 2024, 10:32